Ich war 33, als mir zum ersten Mal jemand ernsthaft vorschlug, dass ich vielleicht ADHS haben könnte. Ich lachte. Ich? ADHS?
Ich war doch nicht „hyperaktiv“. Ich hatte studiert, ich wirkte organisiert, ich war die, auf die man sich „irgendwie immer verlassen konnte“. Und doch lag ich in dieser Zeit regelmäßig abends im Bett, weinend, völlig erschöpft, mit einem dumpfen Gefühl: „Mit mir stimmt etwas nicht – aber ich weiß nicht, was.“
Heute, einige Jahre nach meiner Diagnose, kann ich sagen: Ich wünschte, ich hätte es früher gewusst.
Vor allem, weil ADHS bei Frauen so anders, so leiser, so viel versteckter aussehen kann als das Klischee vom „Zappelphilipp“, das wir alle im Kopf haben. Wir Frauen sind Meisterinnen im Kompensieren. Wir bauen Fassaden, die perfekt aussehen, während dahinter das Fundament bröckelt.
Hier sind 19 Anzeichen von ADHS bei Frauen, die ich rückblickend in meinem Leben sehe – und die ich mir so sehr gewünscht hätte, früher zu verstehen. Vielleicht erkennst du dich in ihnen wieder.
1. Dauernd im Kopf – aber nie wirklich „bei der Sache“
Von außen wirkte ich oft ruhig, verträumt, „vernünftig“. Innen drin lief aber ein nie endender Monolog: Gedanken, To-do-Listen, Sorgen, Ideen, Erinnerungen, Selbstkritik.
Ich saß in Meetings, schaute scheinbar konzentriert auf den Bildschirm – und verfolgte gleichzeitig fünf Gedankensprünge parallel: „Habe ich die Mail schon geschickt? Mist, ich hab die Rechnung vergessen. Eigentlich müsste ich Sport machen. Warum hab ich das gestern schon wieder nicht geschafft? Hoffentlich merkt keiner, wie unkonzentriert ich bin…“
Viele Frauen mit ADHS sind nicht motorisch hyperaktiv, sondern kognitiv hyperaktiv: Das Hirn hört einfach nicht auf zu reden, zu analysieren, zu planen. Du wirkst still, aber innen tobt ein Sturm.
2. Extreme Anstrengung für scheinbar „einfache“ Dinge
„Kannst du das Protokoll bis morgen schicken?“ – ein Satz, der mich früher innerlich panisch machte. Nicht, weil ich es nicht konnte. Sondern, weil mir schon klar war, wie viel Kraft es kosten würde, mich dranzusetzen, anzufangen, dranzubleiben, es fertig zu machen, abzuschicken – und das alles ohne mich zwischendrin im E-Mail-Postfach, bei drei anderen Aufgaben oder auf Social Media zu verlieren.
Ich dachte jahrelang, ich sei faul oder undiszipliniert. Heute weiß ich: Für ein ADHS-Gehirn sind exekutive Funktionen wie Anfangen, Priorisieren und Abschließen oft die größten Hürden – selbst bei Aufgaben, die man versteht und eigentlich sogar wichtig findet. Es fehlt nicht am Willen, es fehlt am Dopamin für den Startmotor.
3. „Du wirkst gar nicht so, als hättest du ADHS“ (Das Masking)
Mädchen und Frauen lernen früh, sich sozial anzupassen. Ich war die „brave Schülerin“, nie ein Störenfried, nie laut. Ich habe gelernt, meine Unruhe nach innen zu verlagern – in Form von Grübeln, Perfektionismus und Überanpassung.
Ich kompensierte meine Defizite massiv:
- Mit übermäßigem Fleiß
- Mit stundenlangem Lernen vor Prüfungen, um das gleiche Ergebnis zu erzielen wie andere in der Hälfte der Zeit
- Mit heimlichem Nacharbeiten am Wochenende
- Mit Listen, Kalendern, Post-its überall
Dadurch fiel mein ADHS im Außen lange nicht auf. Was niemand sah, war der Preis, den ich dafür zahlte: Überforderung, Reizbarkeit, Erschöpfung und ein schleichender Selbsthass.
4. Emotionen „zu stark“ – nach außen oder nach innen
Ich fühlte immer „zu viel“: zu verletzt, zu wütend, zu euphorisch, zu enttäuscht. Ein harmloser Kommentar konnte mich tagelang beschäftigen. Ein kleiner Fehler konnte mir den ganzen Tag ruinieren.
Von außen wirkte ich oft sachlich, weil ich gelernt hatte, mich zusammenzureißen. Aber innerlich erlebte ich:
- Riesenwellen aus Scham, wenn ich etwas vergaß
- Tiefe Verletzung, wenn jemand distanziert auf meine Nachricht reagierte
- Intensives Glück und Begeisterung, wenn mich etwas wirklich interessierte
Viele Frauen mit ADHSmaskieren diese Emotionalität und erleben dann starke innere Spannungen. Es ist, als würde man ständig versuchen, ein übervolles Glas auf einem wackeligen Tablett zu balancieren, ohne einen Tropfen zu verschütten.
5. Chronische Erschöpfung – ohne „guten Grund“
„Du arbeitest doch gar nicht mehr als andere, warum bist du immer so müde?“ Diese Frage tat weh. Denn sie klang so oft nach: „Stell dich nicht so an.“ Aber die Wahrheit ist: Der Alltag mit einem neurodivergenten Gehirn in einer neurotypischen Welt ist anstrengend.
Mein Gehirn musste ständig Schwerstarbeit leisten:
- Dinge suchen, die ich verlegt hatte (Schlüssel, Handy, Geldbeutel)
- Aufgaben neu organisieren, weil ich Fristen vergessen hatte
- Konzentration erzwingen, obwohl der Kopf überall war
- Reize filtern (Licht, Lärm, Gerüche), die andere automatisch ausblenden
Ich war müde – nicht nur körperlich, sondern tief mental. Ein unsichtbarer, dauerhafter Energieverlust, der sich wie ein permanentes Burnout anfühlte.
6. Ein chaotischer Alltag, aber ein starker Wunsch nach Struktur
Ich liebte Ordnung – in der Theorie. Ich sammelte Organisationstipps, kaufte schöne Planer, lud Produktivitäts-Apps herunter. Und trotzdem waren Schlüssel, Dokumente, Socken und wichtige Briefe immer irgendwie … verschwunden.
Mein Schreibtisch bestand aus stapelweise „Ich-sortier-das-später“-Haufen. Meine Wohnung war nie das komplette Chaos, aber immer leicht überfrachtet, mit Schubladen, die man besser nicht öffnete.
ADHS bei Frauen zeigt sich oft als inneres und äußeres Chaos – paradoxerweise überdeckt von dem verzweifelten Wunsch, endlich „so ordentlich wie die anderen“ zu sein.
7. „Alles oder nichts“: Hyperfokus vs. völlige Blockade
Wenn mich etwas wirklich interessierte, konnte ich sechs Stunden am Stück ohne Pause daran arbeiten: Texte schreiben, recherchieren, ein neues kreatives Hobby beginnen. Essen, Trinken, Toilettengänge – alles vergessen. Das ist der berühmte „Hyperfokus“.
Aber bei Aufgaben, die langweilig, repetitiv oder emotional belastend waren (Steuererklärung, Wäsche falten), ging plötzlich gar nichts mehr. Ich starrte auf die Aufgabe, unfähig, mich zu bewegen. Als hätte jemand den Stecker gezogen.
Für Außenstehende wirkt das widersprüchlich: „Wenn du doch stundenlang dieses Projekt machen kannst, wieso schaffst du dann diese eine kurze E-Mail nicht?“ Die Antwort: Es hat nichts mit Faulheit zu tun, sondern mit der Art, wie das ADHS-Gehirn Motivation verarbeitet. Wir funktionieren über Interesse, Neuheit, Druck oder Leidenschaft – nicht über Wichtigkeit.
8. Vergesslichkeit – die wie Respektlosigkeit wirkt
Geburtstage, Verabredungen, Rückrufe, Geschenke besorgen – ich vergaß sie. Nicht, weil mir die Menschen egal waren. Im Gegenteil: Ich liebte sie und machte mir hinterher tagelang schwere Vorwürfe.
Freundinnen interpretierten es manchmal als Desinteresse. Ich interpretierte es als Charakterfehler. Dabei ist Vergesslichkeit (besonders im Arbeitsgedächtnis) ein klassisches ADHS-Symptom. Was im Moment nicht direkt vor mir liegt, existiert für mein Gehirn oft schlicht nicht („Object Permanence“).
9. Beziehungen: zu viel, zu wenig, zu intensiv
In Freundschaften und Beziehungen war ich oft „zu“. Zu verfügbar, zu hilfsbereit, zu emotional investiert. Oder ich zog mich komplett zurück, aus Scham über mein Chaos und meine Überforderung („Ghosting“).
Typisch waren für mich:
- Die nackte Angst, andere zu nerven oder zu enttäuschen
- Ständiges Überanalysieren von Nachrichten („Warum hat sie keinen Smiley benutzt? Ist sie sauer?“)
- Starke Verlustangst
- Das Gefühl, „falsch“ oder „zu anstrengend“ für andere zu sein
Wir entwickeln häufig überangepasste Strategien (People Pleasing), um „nicht zur Last zu fallen“ – und verlieren uns dabei oft selbst.
10. Perfektionismus als Tarnkappe
„Wenn ich alles perfekt mache, merkt niemand, wie chaotisch ich innen bin.“ Das war lange mein unbewusster Leitsatz.
Ich überarbeitete Texte zigmal, brauchte viel zu lange für E-Mails, überlegte jede Formulierung, weil Fehler sich für mich wie persönliche Katastrophen anfühlten. Perfektionismus war keine Tugend, sondern ein Schutzschild.
Es war meine Art, Kontrolle zu behalten in einem Kopf, der sich ständig außer Kontrolle anfühlte. Viele Frauen mit ADHS sind keine „faulen Chaoten“, sondern überperfektionierte, stark leistungsorientierte Menschen, die sich systematisch überfordern.
11. Reizüberflutung im Alltag
Einkaufszentren, Großraumbüros, laute Cafés, grelles Licht im Supermarkt – ich empfand solche Orte oft als physisch schmerzhaft anstrengend, ohne zu verstehen, warum. Geräusche, Licht, Unterbrechungen, Gespräche im Hintergrund: Alles kam ungefiltert rein.
Während andere entspannt weiterarbeiteten, fühlte ich mich nach zwei Stunden Büro wie nach einem Marathon. ADHS bedeutet oft: weniger Filter im Gehirn. Mehr Reize, mehr Eindrücke, mehr Lärm.
12. Zeitempfinden: „jetzt“ oder „nicht jetzt“
Ich konnte schwer einschätzen, wie lange etwas dauern würde. 5 Minuten? 2 Stunden? Kein Gefühl dafür (Zeitblindheit). Aufgaben schob ich auf, bis sie plötzlich „brannten“. Dann reagierte ich mit Panik, Adrenalin und Hyperfokus – und schaffte sie in Rekordzeit. Von außen wirkte das wie „Sie arbeitet am besten unter Druck“.
Die Wahrheit: Ich konnte ohne extremen Zeitdruck kaum in Gang kommen, weil mein inneres Zeitempfinden so verschwommen ist. Das führte zu chronischer Prokrastination und massiven Selbstvorwürfen.
13. Ständige Selbstkritik und ein fragiles Selbstwertgefühl
„Andere schaffen das doch auch.“ „Stell dich nicht so an.“ „Reiß dich endlich zusammen.“
Diese Sätze liefen jahrelang als Dauerschleife in meinem Kopf. Ich nahm jedes Versagen persönlich, jeden Fehler als Beweis dafür, dass ich weniger wert war. Lob konnte ich kaum annehmen, ich suchte sofort nach dem „Aber“.
Wenn man ein Leben lang das Feedback bekommt (direkt oder indirekt), dass man „anders“ ist und sein Potenzial „nicht nutzt“, hinterlässt das tiefe Spuren im Selbstwert.
14. Ständige Wechsel: Jobs, Hobbys, Interessen
Ich hatte nie das eine Hobby, das mich jahrelang begleitete. Stattdessen hatte ich Phasen. Drei Monate lang obsessiv Yoga, dann Fotografie (teure Kamera gekauft), dann Spanisch lernen, dann Töpfern. Intensiv, leidenschaftlich – und plötzlich war die Luft raus.
Das Interesse verpuffte von heute auf morgen. Mit Jobs war es ähnlich: Begeisterung beim Einstieg, volle Energie – und nach ein, zwei Jahren die lähmende Langeweile und das Gefühl, „hier falsch zu sein“. Ein ADHS-Gehirn hungert nach Dopamin und Stimulation. Routine fühlt sich schnell nicht wie Sicherheit, sondern wie ein Käfig an.
15. Schwierigkeiten mit Prioritäten – alles ist gleich wichtig
Ich saß vor einer To-do-Liste und fühlte mich gelähmt. E-Mails beantworten? Steuer machen? Wäsche aufhängen? Ein wichtiges Konzept schreiben? Nudeln kaufen? In meinem Kopf schrie alles gleich laut. Alles war wichtig.
Alles war dringend. Statt logisch zu priorisieren, sprang ich wie wild zwischen Aufgaben hin und her (“Multitasking”) oder machte gar nichts (“Paralyse”). Es ist, als würde das innere Sortiersystem fehlen, das Wichtiges von Unwichtigem trennt.
16. „Sensibel“ für Ablehnung (RSD)
Ein etwas kühlerer Tonfall vom Chef, eine verspätete Antwort vom Partner, eine leichte Kritik von einer Freundin – und ich fiel innerlich in ein bodenloses Loch. In der Fachsprache nennt man das Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD) – eine extreme emotionale Empfindlichkeit gegenüber (echter oder wahrgenommener) Ablehnung.
Es fühlt sich nicht an wie „Oh, das war nicht so nett“, sondern wie ein physischer Schmerz in der Brust. Der Gedanke: „Ich bin wertlos. Ich habe versagt. Alle werden mich verlassen.“ Rational wusste ich oft, dass das übertrieben ist. Emotional war es meine absolute Realität.
17. Zyklusabhängige Verstärkung der Symptome
Rückblickend sehe ich ein Muster: Kurz vor meiner Periode brach mein System zusammen.
- Konzentration? Weg.
- Emotionale Stabilität? Nicht vorhanden.
- Medikamente (später)? Schienen kaum zu wirken.
Viele Frauen mit ADHS berichten, dass Symptome sich drastisch mit dem Hormonzyklus verändern. Der Abfall von Östrogen (welches Dopamin im Gehirn unterstützt) in der zweiten Zyklushälfte kann ADHS-Symptome massiv verstärken. Ich hielt das lange für schweres PMS, statt den Zusammenhang zu sehen.
18. Immer „die Starke“ sein – und innerlich zusammenbrechen
Ich war die, die funktionierte. Die anderen zuhörte, Ratschläge gab, Organisationsaufgaben übernahm (obwohl ich sie hasste). „Du hast alles so gut im Griff“, sagten viele zu mir. Ich lächelte, nickte – und betete innerlich, dass niemand hinter die Fassade schaut.
Abends, wenn die Tür zu war, brach ich zusammen: weinend, leer, hoffnungslos. ADHS-Frauen sind oft Meisterinnen darin, stark zu wirken, bis nichts mehr geht. Wir tragen Beruf, Familie und soziale Erwartungen auf unseren Schultern – und bezahlen oft erst mit 30, 40 oder 50 mit Burnout, Depressionen oder Angststörungen, die eigentlich Symptome eines unbehandelten ADHS sind.
19. Die späte Erkenntnis: „Es war nie Faulheit. Es war ein anderes Gehirn.“
Die Diagnose war für mich ein Schock – und gleichzeitig die größte Erlösung meines Lebens. Plötzlich ergab alles einen Sinn:
- Die Probleme in der Schulzeit trotz guter Intelligenz
- Die ständige Überforderung im Haushalt
- Die intensiven Emotionen
- Das Gefühl, immer irgendwie „aus dem Rahmen zu fallen“
Ich musste viel Trauerarbeit leisten: Trauer um verpasste Chancen, um missverstandene Situationen und um die harten Worte, die ich mir jahrelang selbst gesagt habe. Aber parallel passierte etwas Wichtiges: Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mich mit Mitgefühl betrachten.
Es war nicht Faulheit. Es war kein Mangel an Willenskraft oder Charakterstärke. Es war ein anderes neurobiologisches Betriebssystem, das auf eine Welt ausgelegt war, in der alles „linear“ und „geordnet“ sein soll.
Warum ich diesen Text schreibe
Wenn ich früher verstanden hätte, dass ich ADHS habe, hätte ich mir vermutlich viele Jahre Selbsthass erspart. Ich hätte früher nach Strategien gesucht, die für mich funktionieren, statt zu versuchen, wie alle anderen zu sein. Ich hätte gewusst: Ich bin nicht kaputt. Ich bin nur anders verdrahtet.
Dieser Text ist kein Diagnosewerkzeug. ADHS ist ein komplexes Spektrum und zeigt sich bei jeder Frau etwas anders. Aber falls du beim Lesen an mehreren Stellen dachtest: „Verdammt, das bin ja ich“, dann möchte ich dir Mut machen.
Du bist nicht allein. Es gibt Tausende von uns, die erst jetzt aufwachen und verstehen. Du bist nicht faul. Du bist nicht dumm. Du bist nicht „zu empfindlich“.
Vielleicht hast du einfach nie gelernt, wie man ein Gehirn wie deines bedient. Und vielleicht ist heute der Tag, an dem du anfängst, es herauszufinden.








