Introversion ist keine Generalentschuldigung, ein schlechter Freund zu sein
Jahrelang habe ich geglaubt, ich sei introvertiert.
Ich arbeitete alleine, und ich lebte alleine, reiste alleine und aß alleine. All das war meine Entscheidung, eine, auf die ich stolz war. Ich fühlte mich frei und selbstbewusst. Ich führte mein Leben nach meinen eigenen Regeln.
“Du erwachst wirklich zum Leben, wenn du unter Menschen bist”, sagte eine Freundin zu mir.
Ich wusste, dass etwas Wahres daran war, aber ich war total gegen diese Vorstellung. Ich definierte mich immer noch als introvertiert – es war Teil von dem geworden, was ich war. Im Verlauf dessen wurde es außerdem zu etwas, was ich zu verteidigen begann. Rückblickend ist klar, dass ein Teil von mir wusste, dass etwas nicht ganz stimmte.
Ich habe herausgefunden, dass ich nicht introvertiert bin und es nie wirklich war.
Jahrelang war ich, was ich heute als “verwundeter Extrovertierter” bezeichne: Jemand, deren Verbindungen zu denen, um die sie mal etwas gab, auf die ein oder andere Art getrennt wurden und die es darum als sicherer empfand, stattdessen eine Verbindung zu sich selbst einzugehen.
Das hat funktioniert, für eine Weile.
Als sich mein Leben jedoch neu anpasste und verbesserte, fand ich mich selbst dabei wieder, wie ich mich auf natürliche Weise wieder mit anderen verband und tatsächlich auch die Zeit mit geliebten Menschen mehr schätzte als alles andere.
Meine extrovertierte Natur trat voll zutage und ich ging schlussendlich zu dieser Freundin und sagte ihr, dass sie über mich total recht gehabt hatte.
Ich bin schon als Kind sehr extrovertiert gewesen, ich habe nur aufgehört darauf zu vertrauen, dass ich mich mit anderen Menschen so verbinden konnte, wie ich wollte.
Es machte mir klar, dass es einen Unterschied dazwischen gibt, tatsächlich introvertiert zu sein und zu versuchen, sich zu isolieren. Dieser Unterschied ist wenigen Leuten bewusst, und noch weniger Menschen können dazwischen unterscheiden.
Obwohl so viele Leute glauben, dass sie “introvertierte Extrovertierte” sind, fällt in Wirklichkeit jeder irgendwo auf das Spektrum von Introversion zu Extraversion.
Jeder ist der Definition nach ambivertiert, aber deine dominanten Vorlieben und Züge klassifizieren dich als das eine oder das andere. Besonders die Art, auf die du mehr deiner Energie gewinnst, verortet dich in einer Kategorie statt der anderen.
Introvertierte Menschen tanken eher wieder auf, indem sie Zeit alleine verbringen und extrovertierte Menschen tun das, indem sie Zeit mit anderen verbringen. In vielen Fällen ist der Unterschied subtil, was es erschweren kann, korrekt zu kategorisieren.
Introversion ist keine Generalentschuldigung, ein schlechter Freund zu sein.
Breit gesagt ist der Begriff “introvertiert” zum Allerweltswort für alle Verhaltensweisen geworden, die nicht extrem aufgeschlossen oder ständig gesellig sind.
Immer mehr Leute haben sich in den letzten Jahren damit identifiziert und ich glaube, dass das mit dem Anstieg des Gefühls zusammenhängt, ständig online exponiert und erreichbar zu sein.
Die meisten Leute wollen zu ihrem natürlichen Gleichgewicht zurückkehren, indem sie etwas Distanz wiederherstellen und sich selbst etwas Raum und Zeit für sich zugestehen.
Das hat Menschen dazu geführt, selbstisolierende Verhaltensweisen mit Introversion zu verwechseln.
Wenn du ständig Pläne mit deinen Freunden absagst, Sachen nicht durchziehst, das Antworten auf Nachrichten für Tage und Wochen vernachlässigst, Einladungen ignorierst und nicht zu sehr wichtigen Momenten im Leben anderer erscheinst – dann ist das keine Introversion, das ist Isolation.
Introversion ist keine Generalentschuldigung, ein schlechter Freund zu sein.
Um genau zu sein, haben die meisten Introvertierten, die ich kenne, eine Anzahl sehr enger Freunde, für die sie so gut wie alles tun würden.
Vielleicht sind sie keine großen Partytiere, aber das heißt nicht, dass sie grundsätzlich schlecht darin sind, menschliche Bindungen aufrechtzuerhalten.
Aber es entsteht eine ganz neue Klasse, bestehend aus Extrovertierten, die zu sehr verwundet wurden, ihre Extraversion aufrechtzuerhalten – und so schreiben sie ihre ungesunden Verhaltensweisen fälschlicherweise einem Persönlichkeitszug zu, den sie nicht besitzen.
Das passiert aus zwei primären Gründen:
1. Falsch identifizierte “Introversion” wird als Ausrede genutzt, um ungesunde Grenzen neu zu setzen, die viele Menschen nicht haben oder korrekt verstärken.
Die meisten Menschen sind nicht gut im Setzen von Grenzen, aber Grenzen sind die Grundlage jeder gesunden Beziehung.
Was wir nicht dadurch erreichen können, indem wir uns digital abkoppeln, erreichen wir durch emotionale Abkopplung.
Grenzen kommunizieren anderen um uns herum, welche Verhaltensweisen wir tolerieren und nicht tolerieren und welche Behandlung wir akzeptieren und nicht akzeptieren.
Es kann etwas so Einfaches sein wie zu sagen, wann wir ins Bett gehen und uns dann an diese Aussage zu halten, oder so etwas Komplexes wie jemandem zu sagen, dass wir nicht die emotionale Arbeit für ihn oder sie erledigen werden und wir nicht dafür offen sind, Tag für Tag seinem oder ihrem Schwall von Negativität zuzuhören.
Wir wenden uns speziell der “Introversion” zu, jetzt, da unsere Leben mehr hyper-verbunden sind denn je. In einer Welt, in der wir ständig und sofort für quasi alle und jeden erreichbar sind, sehnen wir uns nach einer gesunden Dosis Zeit allein.
Wenn wir das nicht dadurch erreichen können, dass wir uns digital abkoppeln, erreichen wir es durch emotionale Abkopplung.
Es hat den umgekehrten Effekt von dem, was wir damit beabsichtigen. Wir sind dadurch am Ende nicht stärker oder erfrischt.
Stattdessen isolieren wir uns am Ende von den Menschen, die uns etwas bedeuten, weil wir völlig mit einer falschen Vorstellung von “Verbindung” übersättigt sind, was sehr wenig Raum für die echte Sache lässt.
2. Nach irgendeiner Art des Beziehungstraumas wenden sich verwundete Extrovertierte der “Introversion” als Mittel zum Selbstschutz zu.
Eine weitere Verhaltensweise, die sich zunehmend verbreitet, ist die Zuwendung zur Isolation (was wir Introversion nennen), um sich im Nachhall einer traumatisierenden Reihe von Beziehungen selbst zu schützen.
Statt unserem natürlichen und gesunden Bedürfnis nach menschlicher Verbindung zu vertrauen, fangen wir an zu glauben, dass andere Menschen nicht sicher sind und wir besser dran sind, wenn wir Zeit ohne sie verbringen.
Auch wenn unabhängig sein zu können wesentlich ist, brauchen wir dennoch auch Vernetzung, um wirklich gedeihen zu können. Es ist das, wofür wir gemacht wurden.
Statt zu wissen, wie man gesunde Beziehungen wiederherstellt (indem man sich Beziehungen mit Menschen sucht, die zu gesunden Beziehungen fähig sind), vermeiden wir sie ganz.
Wir haben Angst, dass eine weitere Zurückweisung ein unerträglicher Schlag für unseren schon zerbrechlichen Selbstwert sein könnte.
Echte Introversion ist nicht unhöflich oder egoistisch, noch umfasst sie die komplette Missachtung der Bedürfnisse anderer Menschen.Diese Verhaltensweisen passieren nur, wenn wir uns isolieren.
Wir isolieren uns normalerweise zunächst, wenn wir verletzt wurden, und dann häufiger wenn wir nicht für eine Reihe Verhaltensweisen zur Rechenschaft gezogen werden wollen, von denen wir wissen, dass sie nicht die besten sind, obwohl wir sie nicht in den Griff zu bekommen scheinen.
Isolation ist ein Zeichen, dass wir wissen, dass wir etwas reparieren müssen, aber wir haben dennoch nicht das Gefühl, dass wir dazu fähig sind.
Der Unterschied zwischen Introversion und Isolation ist einfach: Das eine ist ein natürlicher Ausdruck deiner Persönlichkeit und das andere ist ein Bewältigungsmechanismus, eine Methode, alle Verbindungen zu trennen und nicht das anzusehen, was wir wirklich sehen müssen.
Es ist keine gesunde oder tragfähige Lösung für die unausweichlichen Schläge des Lebens.