Warum du aufhören solltest, über deine Angst zu reden und stattdessen Folgendes versuchen solltest!
Spulen wir 50.000 Jahre oder so zurück. Stell dir vor, du seist ein Neandertaler, der gemütlich durch die Felder spaziert. Plötzlich hörst du im nahen Gebüsch einen Tiger.
Innerhalb von einer Nanosekunde fängt dein ganzer Körper an zu reagieren. Dein Puls beschleunigt sich, deine Atmung wird flacher, deine Augen weiten sich, dein Körper beginnt Adrenalin zu produzieren.
All das, was in deinem Körper vor sich geht, ist gut; du bist darauf vorbereitet, diese Begegnung mit dem Tiger zu überleben. Es gibt dabei nur ein kleines Problem. Es war kein Tiger.
Es war ein kleines prähistorisches Wiesel. Dein Körper ist nun auf Kampf oder Flucht eingestellt, dein Herz rast, du bist total auf Adrenalin… aber es gibt keine Gefahr.
So sieht dein Körper im Angstzustand aus. Ersetzen wir den (nicht vorhandenen) Tiger im Gebüsch mit sozialen Medien, Verkehr, Politik, Covid-19, Geld, Kinderbetreuung, Klimawandel, Arbeitsstress, Familiendrama, und du erkennst schnell, warum Angst die häufigste psychische Erkrankung ist.
Moderne Menschen sind im Grunde ein Haufen ausgetickter Neandertaler, die rund um die Uhr im Kampf-oder-Flucht-Modus sind.
Angst ist ein Reiz unseres Körpers, der sagt: “Ich bin gerade nicht in Sicherheit”.
Dein Überlebensgehirn vs. dein denkendes Gehirn
Hier ist der Unterschied zwischen dem denkenden Gehirn, unserem Neocortex, welcher für Entscheidungsfindung, logisches Denken, Ethik, bewusstes Gedächtnis und Lernen zuständig ist, und dem Überlebensgehirn – dem limbischen System, Hirnstamm und Kleinhirn – welches für unser simples Überleben, unsere Emotionen, unser implizites Gedächtnis und unsere Stressaktivierung zuständig ist.
Eine der wichtigsten Funktionen des Überlebensgehirns ist die Neurowahrnehmung, ein unbewusster Prozess des Absuchens der inneren und äußeren Umgebung nach Sicherheit und Gefahr.
Wenn eine Gefahr entdeckt wird, sendet das Überlebensgehirn eine sofortige Stressaktivierung an den Körper, indem das sympathische Nervensystem eingeschaltet wird, wodurch bestimmter Hormone ausgeschüttet werden, die bestimmte körperliche Empfindungen in Bezug auf unser Herz, unsere Atmung und unsere Verdauung herbeiführen.
Was immer im Überlebensgehirn passiert, hat einen enormen Welleneffekt auf unseren ganzen Körper.
Diese Reaktionen sind nicht absichtlich. Unser Nervensystem nimmt Informationen aus der Umwelt nicht auf kognitiver, sondern auf neurobiologischer Ebene auf.
Wichtig ist dabei, dass bei einer solchen Verteidigungsreaktion das denkende Gehirn das letzte ist, das sich bewusst wird, dass etwas nicht stimmt.
Das denkende Gehirn ist nicht für Entscheidungen darüber verantwortlich, ob wir uns gestresst, bedroht oder herausgefordert fühlen, ob wir Stress einschalten oder Emotionen einschalten. Stressaktivierung und Emotionen gehören dem Überlebensgehirn.
Wenn du also deine Ängste nachverfolgen willst, ist deine genaueste Landkarte in deinem Körper zu finden und nicht in deinen Gedanken.
Die Gesprächstherapie-Falle
Anders als unsere prähistorischen Vorfahren (die ihre Angst vielleicht bewältigt haben, indem sie rannten, keuchten oder sich wie ein Hund schüttelten und das Cortisol ihr System durchlaufen ließen), wenden sich moderne Angstbetroffene an ihren vertrauenswürdigen Freund, ihr denkendes Gehirn.
Die meisten Menschen identifizieren Angst anhand ihrer Gedanken, weil die meisten Menschen sich mit ihrem denkenden Gehirn identifizieren.
Das Problem dabei ist, dass unser denkendes Gehirn zur Regulierung unseres Nervensystems nach einer Stressreaktion (sprich: Angst) das absolut schlechteste Werkzeug ist.
Das liegt daran, dass wir, selbst wenn wir uns der körperlichen Reaktion bewusst werden, oft nicht wissen, wodurch diese Reaktion ausgelöst wurde. Als mit PTBS diagnostizierter Veteran war diese Erkenntnis für mich ein großer Wendepunkt. Von Stress und Angst zu heilen ist eine Aufgabe des Überlebensgehirns.
Wir sind eine zerebrale Kultur, wodurch wir sehr gut dafür gerüstet sind, mit durch Vernunft und Logik lösbaren Problemen umzugehen – man denke an moralische Dilemmas – und weniger gut gerüstet, um mit Problemen umzugehen, die durch kognitives Denken nur noch schlimmer gemacht werden können.
Eine “Kampf-oder-Flucht”-Reaktion, wenn man zu spät zum Brunch ist, scheint vielleicht wie eine Überreaktion, aber wenn du im Stau stehst, erlebst du sie physiologisch gesehen dennoch.
Wir entscheiden mit unserem denkenden Gehirn, ob das Problem eine Angstreaktion “wert” ist, und dann versuchen wir unser Nervensystem zu zwingen, sich daran zu halten. In solchen Momenten ist unser Bewusstsein von unserem Körper abgekoppelt.
Dein denkendes Gehirn entscheidet, dass es keinen Grund für deine Angst gibt, und so verbringst du deine Tage damit, dir einzureden, dass alles in Ordnung ist, während du die körperlichen Symptome der Angst im Körper spürst.
Noch schlimmer: Dein denkendes Gehirn kann anfangen, dich zu kritisieren und zu beschämen, weil du immer noch Angst hast, obwohl es dir schon gesagt hat, dass alles in Ordnung ist.
Wenn du ein paar Jahrzehnte (und den Wert einer Anzahlung für ein Eigenheim) auf Gesprächstherapie aufgewendet und mit der Analyse aller Gründe für deine Angst verbracht hast, ist diese Pille wahrscheinlich schwer zu schlucken.
Nicht nur hat all das Reden nicht viel bei der Linderung der Angst geholfen, sondern könnte sie sogar noch schlimmer gemacht haben.
Unser Überlebensgehirn will uns beschützen, aber wenn wir unseren Körper und seine Signale ignorieren, weil wir so sehr in den Geschichten und Gedanken unseres denkenden Gehirns feststecken, nimmt unser Überlebensgehirn das als sogar noch bedrohlicher wahr.
Wie ein Kleinkind wütet es noch mehr, bis seine Botschaft durchkommt. Und darum wird daraus ein solcher Teufelskreis.
Nehmen wir beispielweise die kognitive Verhaltenstherapie, eine der häufigsten Formen der Gesprächstherapie. Sie hilft dir dabei, dir unzutreffender oder negativer Gedanken bewusst zu werden, damit du problematische Situationen klarer sehen und wirksamer darauf reagieren kannst. Klingt toll, oder?
Zwar könnte diese Art der Analyse bei familiären Problemen oder bei ethischen Fragen sehr hilfreich sein, aber bei Ängsten, die nicht im denkenden Gehirn liegen, legt sie das Augenmerk auf den Gedanken (“Ich dachte, da wäre ein Tiger!”) und nicht auf die körperliche Reaktion, die vor dem Gedanken stattfand oder diesen sogar ausgelöst hat (“Mein Herz rast und ich bin voller Adrenalin und brauche Werkzeuge, um mich zu beruhigen”).
Wir wollen uns des Unbehagens in unserem Körper nicht unbedingt bewusst sein oder es spüren, weil körperliche Angst unangenehm ist.
Stattdessen versuchen wir, sie irgendwo festzumachen und ihr ein äußeres Objekt zu geben. Aber wenn die Angst nicht durch das äußere Objekt verursacht wurde, wird das Festmachen die Angstgefühle nicht lindern.
Eine Lösung von unten nach oben für Ängste
Während Gesprächstherapie und Medikamente immer noch die häufigsten Lösungen für chronische Angststörungen sind, gibt es auch andere Herangehensweisen, die sich zuerst an den Körper richten.
Und auch wenn diese Methoden noch als “alternativ” gelten, führen ein zunehmendes Interesse an “Hirnforschung” und Neurobiologie sowie laufende Forschungen zu Achtsamkeit und Körper-Geist-Verbindung dazu, dass sich unser psychologisches Verständnis von der ausschließlichen Konzentration auf den Verstand zu einer Sicht auf Gehirn und Körper als zusammenhängende Einheit hinwendet.