Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich keine dunklen Bilder.
Ich sehe ein Wohnzimmer, das immer ordentlich war. Der Boden blitzsauber, die Vorhänge glattgezogen, die Ablagen staubfrei. Ich sehe eine Frau, meine Mutter, immer beschäftigt: mit Kochen, Putzen, Telefonieren, Einkaufen, Funktionieren.
Und ich sehe ein Kind, mich, daneben. Still, angepasst, „unkompliziert“.
Auf dem Papier war alles da, was ein Kind braucht: Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Geschenke zum Geburtstag. Wir waren das Bild einer funktionierenden Familie. Es gab keinen offensichtlichen Missbrauch, keine dramatischen Szenen, die man in Filmen nachspielen würde. Es war eher ein permanentes „Nicht-Geschehen“, eine stille Leere zwischen uns.
Und dennoch trage ich bis heute einen Satz in mir, der alles trifft:
Mama war da, aber nicht spürbar.
Es gibt eine Art von Einsamkeit, für die wir in unserer Sprache kaum Worte haben. Es ist nicht die Einsamkeit des Alleinseins, wenn man in einem leeren Zimmer sitzt. Es ist die viel schmerzhaftere Einsamkeit, die entsteht, wenn jemand direkt neben dir sitzt, atmet, Kaffee trinkt – und dennoch Lichtjahre entfernt ist.
Die gläserne Wand im Wohnzimmer
Es ist schwer, diesen Mangel zu beschreiben, weil er so unsichtbar ist. Ich nenne es heute das „Paradoxon der anwesenden Abwesenheit“.
Meine Mutter war physisch fast immer verfügbar. Ich hörte ihre Schritte durch die Wohnung, ihre Stimme am Telefon, ihre Anweisungen im Alltag: „Räum dein Zimmer auf“, „Mach deine Hausaufgaben“, „Stell dich nicht so an.“ Aber da war eine gläserne Wand zwischen uns.
Wenn ich versuchte, sie emotional zu erreichen – mit einer Geschichte aus der Schule, mit einer Angst oder einfach nur einem Blick –, prallte ich an dieser Wand ab. Ihr Blick glitt an mir vorbei oder ging durch mich hindurch, als wäre ich aus Glas.
Sie reagierte auf Fakten, nicht auf Gefühle. Auf Leistung, nicht auf Bedürftigkeit. Wenn ich mit einer Zeichnung kam, auf die ich stolz war, sagte sie vielleicht „Schön“ – aber es war ein mechanisches Wort.
Ein Wort ohne Gewicht. Sie schaute nicht wirklich hin. Sie spürte nicht mich, sie bewertete nur das Objekt. Ich war versorgt, aber nicht gesehen.
Die Checkliste der Versorgung
Jahre habe ich gebraucht, um den Unterschied zwischen Versorgung und Beziehung zu verstehen.
Meine Mutter war eine Meisterin der Versorgung. Für sie war Muttersein eine Checkliste, die abgearbeitet werden musste:
- Kind hat gegessen? Haken dran.
- Kind ist sauber? Haken dran.
- Kind schreibt gute Noten? Haken dran.
Auf dieser Liste fehlten jedoch die unsichtbaren Punkte, die man nicht abhakten kann: Kind fühlt sich geborgen. Kind fühlt sich verstanden. Kind spürt Wärme.
Sie kochte mein Lieblingsessen, aber sie fragte nie, wie es mir schmeckte oder was mich an diesem Tag bewegt hatte, während ich es aß. Sie fuhr mich zum Sport, aber sie jubelte nicht innerlich mit. Sie tat das Richtige, aber sie war nicht da.
Die Sehnsucht, die in mir blieb, lässt sich in einem einzigen, stummen Schrei zusammenfassen: „Sieh mich. Nicht nur, was ich tue – sieh, wer ich bin.“
Die Regeln meiner Kindheit: Sei unauffällig, sei stark
Kinder ziehen aus dem, was sie erleben, unbewusste Schlüsse. Wenn keine Resonanz kommt, zweifelt das Kind nicht an den Eltern, es zweifelt an seiner eigenen Existenzberechtigung. Die unsichtbaren Regeln meiner Kindheit sahen rückblickend so aus:
- Sei unauffällig. Wenn ich leise war, gab es keinen Streit. Wenn ich nicht weinte, war niemand genervt. Also lernte ich, Gefühle zu verstecken. Ich aß meinen Kloß im Hals einfach mit runter. Ich baute mir meine eigene kleine Festung, um nicht enttäuscht zu werden.
- Sei stark. Schwäche war bei uns kein Thema. „Reiß dich zusammen“, „Das ist doch nicht so schlimm“, „Andere haben es viel schwerer.“ Wenn ich traurig war, lernte ich schnell: Meine Gefühle sind übertrieben, falsch oder lästig.
- Sei dankbar. Es war alles da: Schulsachen, ein eigenes Zimmer, Urlaub. Wenn ich mich innerlich leer fühlte, schämte ich mich. Ich dachte: „Ich hab doch gar kein Recht, mich schlecht zu fühlen. Mama macht doch alles für uns.“
- Stelle keine Fragen, die zu tief gehen. Wir haben nie darüber geredet, wie es uns wirklich geht. Wenn ich es versuchte, wurde ausgewichen, kleingeredet oder mit praktischem Rat geantwortet. „Dann mach halt XY…“ statt „Wie fühlst du dich damit?“
Das Tragische ist: Als Kind hält man nicht die Eltern für unfähig, sondern sich selbst für falsch. Also dachte ich, ich sei zu empfindlich, zu bedürftig, zu kompliziert. Ich dachte, ich sei der Fehler im System.
Der Körper erinnert sich – auch wenn der Kopf schweigt
Jahre später, längst erwachsen, hätte ich dir sagen können: „Meine Kindheit war völlig in Ordnung. Kein Drama, alles gut.“ Und gleichzeitig erzählte mein Leben eine andere Geschichte.
Ich funktionierte – richtig gut sogar. Aber ich lebte nicht wirklich.
- Ich konnte meine eigenen Gefühle kaum benennen.
- Ich spürte oft eine innere Leere, besonders in ruhigen Momenten, die ich sofort mit Arbeit oder Ablenkung füllen musste.
- In Beziehungen suchte ich mir Partner, die emotional nicht erreichbar waren. Warum? Weil sich das vertraut anfühlte. Mein Nervensystem kannte diesen Zustand des „Ich muss um Aufmerksamkeit betteln“. Wärme und echte Intimität hingegen fühlten sich fremd, fast bedrohlich an.
- Ich hatte das diffuse Gefühl, ständig „zu viel“ zu sein – oder „nicht genug“.
Emotionaler Mangel ist wie ein Vitaminmangel der Seele: Von außen wirkt alles okay, man sieht keine blauen Flecken, aber innerlich fehlt etwas Essenzielles, damit das „Knochengerüst“ der Persönlichkeit stabil wachsen kann.
Man kann nicht klar sagen: „Da und da ist etwas Schlimmes passiert.“ Es ist eher: Etwas Wichtiges ist nie passiert. Nämlich: Wirklich gefühlt, gehalten, gespiegelt worden zu sein.
Die unsichtbare Verwundung: Emotionale Vernachlässigung
Ich habe erst viel später einen Begriff dafür gefunden:Emotionale Vernachlässigung. Das klingt hart, fast anklagend – und meine erste Reaktion war Abwehr: „So schlimm war es bei uns doch nicht. Sie hat mich doch nicht geschlagen.“
Aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr spürte ich: Es geht nicht darum, Schuld zu verteilen. Es geht darum, der Wahrheit Raum zu geben. Emotionale Vernachlässigung heißt nicht zwingend, dass jemand bewusst grausam ist.
Oft bedeutet es: Die Eltern sind mit sich selbst so beschäftigt – mit eigenen unbewältigten Verletzungen, Ängsten oder Depressionen –, dass sie das innere Erleben ihres Kindes schlicht nicht wahrnehmen können.
Bei mir zeigte sich das so: Ich konnte von außen betrachtet unglaublich „selbstständig“ sein. Ich brauchte angeblich „niemanden“. Das wurde von Verwandten sogar gelobt: „Das Kind ist so pflegeleicht.“ Doch innerlich war das kein Zeichen von Reife, sondern von Resignation.
Ich hatte aufgegeben, wirklich etwas zu erwarten. Ich hatte aufgehört, zum trockenen Brunnen zu gehen und nach Wasser zu fragen.
Der Wendepunkt: Wenn die Fassade Risse bekommt
Irgendwann, bei mir war es in meinen späten Zwanzigern, hörte das reine Funktionieren auf zu reichen. Es gab keinen „großen Knall“, aber viele kleine Risse in der Glasscheibe. Ich saß abends auf dem Sofa und fühlte mich bodenlos einsam, obwohl Freunde da waren.
Ich merkte, dass ich Konflikte um jeden Preis mied, selbst wenn ich mich dafür verriet. Und ich war ständig müde von mir selbst: von diesem inneren Kritiker, der mich antrieb, immer noch perfekter zu sein, damit mich vielleicht endlich jemand sieht.
Zum ersten Mal stellte ich mir die Frage: „Was, wenn nicht ICH das Problem bin, sondern das, was ich nie bekommen habe?“
Heilung begann für mich mit einem schlichten, schmerzlichen Eingeständnis. Der schwierigste Satz war: „Ich habe etwas gebraucht, das ich nicht bekommen habe.“
Er schien undankbar zu sein. Illoyal gegenüber meiner Mutter, die doch so viel geputzt und gekocht hatte. Und gleichzeitig war er der erste wirklich liebevolle Satz, den ich zu mir selbst gesagt habe.
In einer Therapie erzählte ich einmal: „Meine Mutter war doch immer da.“ Die Therapeutin sah mich ruhig an und fragte: „Und war sie mit dir – oder nur um dich herum?“
Diese Frage traf mich ins Mark. Sie unterschied zwischen Anwesenheit und Präsenz.
Der innere Nachholprozes
Heilung ist kein gerader Weg. Es ist Arbeit. Ich musste lernen, das nachzuholen, was gefehlt hatte. Man nennt das „Reparenting“ – sich selbst beeltern.
Ich lerne nach und nach: Gefühle benennen. Nicht mehr alles unter „Es geht schon“ zusammenzufassen. Sondern differenzieren: Bin ich traurig? Einsam? Wütend? Überfordert? Und mir zu erlauben, das zu fühlen.
Bedürfnisse ernst nehmen. Nicht sofort fragen: „Darf ich das haben?“, sondern: „Was brauche ich gerade? Ruhe? Trost? Eine Grenze?“
Mir selbst Glauben schenken. Wenn mein inneres Kind sagt: „Das tut weh“, antworte ich nicht mehr mit Mamas Stimme: „Stell dich nicht so an.“ Sondern ich versuche, die Mutter zu sein, die ich gebraucht hätte: „Okay. Ich sehe dich. Dein Schmerz ist echt.“
In gewisser Weise versuche ich heute, die gläserne Wand einzureißen. Ich umgebe mich heute mit Menschen, die emotional verfügbar sind. Ich lerne, dass echte Liebe fließt und nicht durch Leistung erkämpft werden muss.
Ein anderer Blick auf meine Mutter
Mit der Zeit hat sich auch mein Blick auf meine Mutter verändert. Aus der fernen, unnahbaren Figur ist ein Mensch geworden. Ich kenne inzwischen Teile ihrer Geschichte. Eine Großmutter, die hart war, ein Kriegstrauma, eine Generation, in der Gefühle als Schwäche galten.
Ich verstehe inzwischen: Sie konnte nicht geben, was sie selbst nie bekommen hatte. Man kann nicht aus einer leeren Tasse schenken. Ihr Rückzug, ihre emotionale Abwesenheit, war wahrscheinlich ihr eigener Schutzmechanismus, um in einer Welt zu überleben, die sie überforderte.
Das entschuldigt nicht den Schmerz meines inneren Kindes, aber es erklärt ihn. Und es löst langsam den harten Knoten aus Vorwurf und Schuldgefühl in mir. Ich kann heute sagen:
- Ja, ich habe gelitten.
- Ja, sie hat mich nicht wirklich gesehen.
- Und ja, sie hat mich auf ihre begrenzte Weise geliebt.
Alles gleichzeitig. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß.
Schlussgedanke: Präsenz ist mehr als Anwesenheit
Vielleicht liest du das und spürst, dass etwas in dir mitschwingt. Vielleicht hattest du auch Eltern, die körperlich da waren, aber innerlich nicht erreichbar. Vielleicht sagst du dir Sätze wie: „Anderen ging es viel schlechter.“
Dann möchte ich dir sagen: Dein Erleben ist real. Es ist kein Verrat an deinen Eltern, wenn du anerkennst, was dir gefehlt hat. Du bist nicht undankbar, wenn du deine seelischen Bedürfnisse ernst nimmst.
Wenn ich heute die Augen schließe und an „Muttersein“ oder generell an Liebe denke, sehe ich nicht mehr geputzte Wohnungen oder gute Noten. Ich sehe:
- Eine Hand, die bleibt, wenn jemand weint.
- Augen, die nicht ausweichen, wenn es schwer wird.
- Eine Wärme, die man nicht anfassen, aber tief spüren kann.
Präsenz heißt nicht nur, im selben Raum zu sein. Präsenz heißt, innerlich erreichbar zu sein. Meine Mutter war damals nicht spürbar. Aber ich bin heute dabei, mich selbst spürbar zu machen. Für das Kind in mir, das so lange gewartet hat, und für die Menschen, die ich liebe.
Wir müssen das Erbe der Stille nicht weitertragen. Wir können anfangen zu fühlen.











