Warum bleibe ich bei ihm, obwohl er mir nicht guttut

Warum der Kopf längst gepackt hat, aber das Herz noch im Flur steht – Die Anatomie des Nicht-Gehen-Könnens

Es ist Nacht. Das blaue Licht meines Smartphones ist die einzige Lichtquelle im Schlafzimmer, während neben mir der Mann schläft, wegen dem ich wach liege.

Sein Atem geht ruhig, gleichmäßig. Meiner stockt. Ich scrolle durch alte Nachrichten, Chatverläufe von vor zwei Jahren, als wir uns kennenlernten.

Ich suche nach Beweisen. Beweise dafür, dass er mich liebt. Oder Beweise dafür, dass ich verrückt bin, mir diese Zweifel überhaupt zu erlauben.

Wenn du diesen Artikel angeklickt hast, kennst du dieses Gefühl vermutlich. Du kennst die Diskrepanz zwischen dem, was alle deine Freunde dir sagen („Verlass ihn endlich!“), was dein eigener Verstand dir zuruft („Das hat keine Zukunft!“) und dem, was deine Hände tun (nämlich: bleiben. Festhalten. Noch eine Nachricht schreiben).

Ich schreibe das als Frau, die jahrelang in diesem emotionalen Niemandsland gelebt hat. Die im Auto vor der Haustür saß und weinte, bevor sie das Lächeln aufsetzte, um reinzugehen. Die Experten darin wurde, Ausreden für sein Verhalten zu erfinden.

Lange habe ich mich dafür geschämt. Ich hielt mich für eine starke, intelligente Frau – warum verwandelte ich mich in dieser Beziehung in jemanden, der nach Krümeln bettelte?

Heute weiß ich: Es lag nicht daran, dass ich schwach war. Es lag daran, dass die Dynamik toxischer Beziehungen psychologische und biochemische Haken schlägt, die uns stärker fesseln als jede „normale“ Liebe es könnte.

Lass uns tief tauchen. Lass uns ehrlich hinschauen, warum wir bleiben, obwohl wir wissen, dass es uns zerstört.

1. Das Prinzip des Spielautomaten: Warum Unberechenbarkeit süchtig macht

Das vielleicht grausamste Missverständnis über ungesunde Beziehungen ist, dass sie immer schlecht sind. Wären sie das, würden wir alle sofort gehen. Niemand fasst freiwillig jeden Tag auf eine heiße Herdplatte.

Das Problem – und der Klebstoff, der uns hält – sind die guten Momente.

In der Verhaltenspsychologie gibt es den Begriff der intermittierenden Verstärkung. Stell dir einen Spielautomaten vor: Würdest du jedes Mal gewinnen, würde es langweilig. Würdest du nie gewinnen, würdest du frustriert aufhören.

Aber wenn du manchmal gewinnst – völlig unvorhersehbar, zufällig und selten –, dann entsteht eine Sucht. Du wirfst immer wieder eine Münze ein, in der Hoffnung auf dieses eine Glücksgefühl.

Mein Partner war mein Spielautomat. Es gab Wochen, da war er kalt, abweisend, kritisch. Er ignorierte meine Bedürfnisse, ließ mich links liegen. Ich fühlte mich wertlos, mein Cortisolspiegel (Stress) war permanent am Anschlag.

Und dann, plötzlich, ohne Vorwarnung: Ein liebevolles Wort. Ein Blumenstrauß. Ein Blick voller Wärme, der sagte: „Du bist die Einzige für mich.“

In diesem Moment schüttet das Gehirn massiv Dopamin aus. Es ist eine biochemische Erlösung, die sich intensiver anfühlt als in jeder gesunden, stetigen Beziehung. Dein Körper lernt: Er ist die Quelle des Schmerzes, aber er ist auch die einzige Medizin gegen diesen Schmerz. 

Wir bleiben nicht wegen der schlechten Zeiten. Wir bleiben, weil wir süchtig nach der Erlösung sind, die uns die kurzen guten Phasen verschaffen. Wir warten auf den nächsten Gewinn.

2. Die Falle der „Potenzial-Liebe“

Wenn ich heute zurückblicke, muss ich mir eine schmerzhafte Wahrheit eingestehen: Ich war oft gar nicht in den Mann verliebt, der da vor mir stand. Ich war in sein Potenzial verliebt.

Ich sah nicht den Mann, der mich anschrie, weil ich den falschen Käse gekauft hatte. Ich sah den verletzten Jungen in ihm, der eine schwere Kindheit hatte.

Ich sah den Mann, der er sein könnte, wenn er nur seine Probleme in den Griff bekäme. Ich dachte: „Wenn ich ihn nur genug liebe, wenn ich geduldig genug bin, dann wird er zu diesem Mann. Ich bin die Einzige, die ihn wirklich versteht.“

Das ist eine Form von Arroganz, getarnt als Hilfsbereitschaft. Wir machen uns zum Projektmanager der Seele unseres Partners. Wir investieren all unsere Energie in eine Fantasie-Zukunft.

Jedes Mal, wenn er einen guten Tag hatte, dachte ich: „Siehst du! Da ist er! Das ist der wahre Er!“ Wenn er einen schlechten Tag hatte (was 80% der Zeit der Fall war), dachte ich: „Er hat nur gerade Stress, das ist nicht sein wahres Ich.“

Die brutale Realität ist jedoch: Der Mann, der dich schlecht behandelt, ist sein wahres Ich. Sein Verhalten ist die Realität. Das Potenzial ist nur ein Märchen, das wir uns erzählen, um den Schmerz zu ertragen.

3. Die kognitive Dissonanz und der innere Anwalt

Je schlechter er mich behandelte, desto mehr verteidigte ich ihn. Das klingt paradox, ist aber ein psychologischer Schutzmechanismus namens kognitive Dissonanz.

Mein Selbstbild („Ich bin eine emanzipierte Frau, die sich nichts gefallen lässt“) und meine Handlung („Ich bleibe bei einem Mann, der mich respektlos behandelt“) passten nicht zusammen. Dieser innere Widerspruch erzeugt massiven Stress.

Um diesen Stress zu lösen, hatte ich zwei Möglichkeiten: Gehen (Handlung ändern) oder die Realität umdeuten (Wahrnehmung ändern). Da Gehen sich zu gefährlich anfühlte, begann ich, die Realität zu verbiegen.

Ich wurde zu seinem besten Verteidiger – vor meinen Freunden, meiner Familie und vor mir selbst.

  • „Er meint das nicht so, er hat nur ein hitziges Temperament.“
  • „Ich war ja auch anstrengend heute.“
  • „Andere Paare streiten auch.“

Ich habe meine eigenen Grenzen so oft verschoben, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, wo sie eigentlich verliefen. Ich nahm Schuld auf mich, die nicht meine war, nur damit die Beziehung wieder Sinn ergab.

Denn wenn ichschuld bin, dann habe ich Kontrolle. Dann kann ich mich ändern, und alles wird gut. Zu akzeptieren, dass er toxisch ist und ich machtlos bin, wäre viel beängstigender gewesen.

4. Die „Sunk Cost Fallacy“: Warum Investitionen binden

Wir kennen das aus der Wirtschaft: Man investiert Geld in ein Projekt. Das Projekt läuft schlecht. Aber anstatt auszusteigen, schießt man noch mehr Geld nach, weil man sich sagt: „Ich habe schon so viel investiert, das darf nicht umsonst gewesen sein.“

In Beziehungen nennen wir das Liebe, aber oft ist es die Sunk Cost Fallacy (Fehlschluss der versunkenen Kosten). Ich dachte oft: „Wir sind jetzt seit vier Jahren zusammen. Wir haben eine Wohnung, gemeinsame Urlaube, so viele Erinnerungen. Wenn ich jetzt gehe, waren all die Tränen, all das Kämpfen umsonst.“

Wir behandeln unsere Lebenszeit wie ein Aktienpaket, das wir nicht mit Verlust verkaufen wollen. Wir hoffen auf den „Turnaround“. Aber eine Beziehung ist keine Börse. Die Jahre, die wir gelitten haben, bekommen wir nicht zurück, indem wir noch fünf weitere Jahre leiden.

Es ist schwer, sich einzugestehen: Ich habe mich geirrt. Ich habe Jahre in etwas investiert, das bankrott ist. Dieses Eingeständnis tut weh. Also bleiben wir, um diesen Schmerz der „Verschwendung“ zu vermeiden.

5. Die Angst vor dem emotionalen Raubbau

Ein Aspekt, über den selten gesprochen wird, ist der systematische Abbau des Selbstwertgefühls. Eine toxische Beziehung ist wie ein Vampir, der dir langsam die Lebensenergie aussaugt.

Am Anfang war ich voller Leben, hatte Hobbys, Freunde. Am Ende der Beziehung fühlte ich mich klein, grau und leer. Er hatte mich nicht geschlagen, aber seine Worte und sein Verhalten hatten mir das Gefühl gegeben, dass ich „zu kompliziert“, „zu sensibel“ oder einfach „nicht gut genug“ sei.

Wenn man sich so fühlt – wie ein Nichts – dann erscheint der Gedanke an eine Trennung unmöglich. Wer soll mich denn noch wollen? Wie soll ich allein klarkommen, wenn ich mich kaum traue, eine Entscheidung über das Abendessen zu treffen, ohne Angst vor Kritik zu haben?

Er hatte sich zur einzigen Säule in meinem Leben gemacht, indem er alle anderen Säulen (Freunde, Selbstvertrauen, Unabhängigkeit) subtil beschädigt hatte. Und wenn deine Welt nur noch auf einer Säule steht, hast du panische Angst, diese umzustoßen – selbst wenn sie morsch ist. Die Angst vor dem freien Fall ins Nichts ist größer als der Schmerz des Bleibens.

6. Biologische Bindung: Trauma Bonding

Manchmal fragte ich mich: „Warum vermisse ich ihn, selbst wenn er mir gerade wehgetan hat?“ Das ist das Perverse am sogenannten Trauma Bonding. Wenn wir existenzielle Angst oder extremen Stress erleben (und Streit in solchen Beziehungen fühlt sich existenziell an), suchen wir instinktiv Schutz bei unserer engsten Bezugsperson.

In einer gesunden Beziehung tröstet der Partner dich, wenn du Stress hast. In einer toxischen Beziehung ist der Partner die Quelle des Stresses – aber er ist gleichzeitig der Einzige, den du als Tröster akzeptierst.

Du rennst also zu dem Menschen, der dich geschlagen hat (metaphorisch oder physisch), um dich trösten zu lassen. Das schafft eine extrem starke, aber kranke Bindung. Es ist das Stockholm-Syndrom der Liebe. Man fühlt sich ohne den Peiniger nicht lebensfähig.

7. Der Wendepunkt: Wenn der Körper schlauer ist als der Kopf

Wie bin ich schließlich rausgekommen? Es gab nicht den einen großen Knall. Es gab kein Hollywood-Finale mit gepackten Koffern im Regen. Es war eher ein langsames Sterben der Hoffnung. Und vor allem: Mein Körper hat gestreikt.

Lange bevor mein Kopf bereit war, die Wahrheit zu akzeptieren, schrie mein Körper sie heraus. Ich hatte ständige Magenschmerzen. Ich bekam Hautausschläge. Ich hatte Herzrasen, wenn sein Auto in die Einfahrt bog. Ich war chronisch erschöpft, egal wie viel ich schlief.

Irgendwann saß ich in einem Wartezimmer beim Arzt, mal wieder wegen unerklärlicher Bauchschmerzen, und mir wurde glasklar: Dieser Mann macht mich krank. Physisch krank. Es war nicht mehr eine Frage von „Liebe ich ihn?“ oder „Liebt er mich?“. Es war eine Frage des Überlebens. Ich musste mich entscheiden: Er oder ich.

Ich begann, ein Tagebuch zu schreiben. Aber nicht über Gefühle, sondern über Fakten. Datum: Dienstag. Ereignis: Er hat mich drei Stunden angeschwiegen, weil ich gelacht habe, als er ernst war. Gefühl: Angst, Übelkeit. Das Schwarz auf Weiß zu sehen, half mir, die kognitive Dissonanz zu durchbrechen. Ich konnte es nicht mehr schönreden, wenn es da stand.

8. Was ich dir sagen möchte, wenn du noch dort bist

Wenn du das liest und nickst, wenn dir vielleicht gerade die Tränen kommen, weil du dich ertappt fühlst: Bitte verurteile dich nicht. Dass du noch nicht gegangen bist, heißt nicht, dass du dumm bist.

Es heißt, dass du liebst, dass du hoffst und dass du in einem Netz gefangen bist, das auf deine tiefsten menschlichen Bedürfnisse (Bindung, Sicherheit) abzielt.

Der Absprung ist wie ein kalter Entzug. Es wird wehtun. Dein Gehirn wird schreien. Du wirst denken, du stirbst vor Einsamkeit. Aber ich kann dir versprechen: Du stirbst nicht.

Auf der anderen Seite dieser Angst wartet eine Version von dir, die du vielleicht schon vergessen hast. Eine Version, die durchatmet. Die keine Bauchschmerzen mehr hat, wenn das Handy klingelt. Die ihren Kaffee morgens in Ruhe trinkt, ohne die Stimmung im Raum scannen zu müssen wie ein Minensuchgerät.

Du musst nicht heute gehen. Aber fang an, hinzusehen. Hör auf, ihn zu entschuldigen. Schreib die Fakten auf. Sprich mit jemandem, der dir nicht sagt „Das wird schon“, sondern „Das ist nicht okay“.

Der schwerste Schritt ist nicht der Auszug selbst. Der schwerste Schritt ist die Entscheidung im Kopf: Ich bin mir mehr wert als das. Und wenn du diesen Satz einmal wirklich gefühlt hast, wird dich nichts mehr aufhalten können. Nicht einmal deine eigene Angst.

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