Das Problem ist nicht deine Motivation, sondern deine Wunde

Eine Frau kommt mit einem gebrochenen Bein in die Praxis eines Therapeuten. Sie ist mit ihrer Weisheit am Ende. Sie setzt sich hin und sagt:

“Ich bin so frustriert. Seit Jahren versuche ich, einen Marathon zu laufen, aber ich schaffe es einfach nicht. Irgendwas muss mit mir nicht stimmen. Ich versuche, aus dem Bett zu kommen, um zu trainieren, aber ich will einfach nicht. Selbst wenn ich mich zwinge, komme ich nicht einmal annähernd so weit wie alle anderen.

Es ist, als ob ich irgendwie unzureichend bin. Nach dem Training habe ich solche Schmerzen, dass ich Schmerzmittel nehmen muss. Andere Menschen können laufen, ohne Schmerzmittel nehmen zu müssen. Ich verstehe einfach nicht, was mit mir nicht stimmt.”

Was würdest du zu dieser Person als erstes sagen? “Das Problem ist Ihr gebrochenes Bein.”

Ich nutze dies als eine Metapher für Menschen mit Trauma. Solche Menschen versuchen oft, sich mit “Willenskraft” über schwere und lähmende Wunden hinwegzusetzen – Wunden, die vorhanden sind, aber dennoch unsichtbar.

Dies tritt besonders häufig bei Überlebenden von psychischer Gewalt auf. Warum? Nun ja, ein Soldat kann auf den Krieg verweisen und ein Überlebender einer Naturkatastrophe auf den Tropensturm. Überlebende psychischer Gewalt sind sich oft gar nicht bewusst, dass ihre Erfahrungen traumatisch waren.

Ich würde sogar wetten, dass viele Leser keine Ahnung haben, was psychische Gewalt ist. Wenn sie hören, dass solche Gewalt verbale Grausamkeit, Herabsetzung, Gaslighting, Erniedrigung und Kontrolle umfasst, zweifeln zudem viele Menschen an, dass etwas so Harmloses wie “Worte” dauerhafte Auswirkungen haben könnte.

Jedoch hat die Forschung wiederholt gezeigt, dass psychische Gewalt negative Auswirkungen hat, die mit denen von körperlicher und sexueller Gewalt vergleichbar sind.

Dieser Wissensmangel hat eine Folge – Überlebende glauben, dass sie fehlerhaft, zerbrochen, wertlos und nicht liebenswert sind.

Sie haben mit Selbstverachtung zu kämpfen, weil es ihnen nicht gelingt, gesunde Beziehungen zu schaffen, oder weil sie ständig gegen Depressionen ankämpfen, oder weil sie nicht in der Lage sind, aktiv eine Karriere zu verfolgen. Sie denken, dass sie selbst das Problem sind. In Wirklichkeit?

Werden sie von den Komplikationen eines ungelösten Traumas eingeschränkt.

Leider hat die Welt für psychische Wunden weniger Verständnis als für physische. Während ein gebrochenes Bein offensichtlich ist und kein Stigma hat, trifft das nicht darauf zu, ein Opfer zu sein. Besonders dann, wenn man Opfer von etwas so Subtilem und Nuanciertem wie psychischer Gewalt geworden ist.

Schlussendlich wird der Schaden, der aus dem Ignorieren der Wunde entsteht, fast so beträchtlich wie der ursprüngliche Bruch. Überlebende infizieren sich mit negativen Überzeugungen von sich selbst, ihren Fähigkeiten und der Welt im Allgemeinen.

Sie werden überwältigt von fehlangepassten Bewältigungsmechanismen wie Drogenkonsum, Selbstverletzung oder Essstörungen. Die Überzeugung, dass sie kaputt oder nicht liebenswert sind, wird noch durch Depressionen, Angststörungen und ein hyperaktives Nervensystem verstärkt.

Als Folge daraus isolieren sie sich und schalten ab.

Aus dieser Position heraus sind die Überlebenden wie die Frau aus unserer Geschichte am Anfang. Sie sind in der Überzeugung gefangen, dass unfähig sind, ihre Träume zu erreichen. Da sie nicht in der Lage sind, die echten und berechtigten Einschränkungen des Traumas zu erkennen, beschließen sie, dass ihr Scheitern an persönlichen und unveränderlichen Eigenschaften liegt.

Die Überlebenden nehmen zu ihrem Nachteil an, dass das Fehlen von Leistungen, Glück und Erfolg ein Beweis ihrer Unzulänglichkeit ist. Stattdessen ist es ein Beweis für ihre Wunden.

Wenn du dich in diesen Worten wiedererkennst, nimm dir bitte kurz Zeit und überlege, welche Wunden du ignorierst. Die Sachen, bei denen du dir gesagt hast, dass du einfach “darüber hinwegkommen” sollst oder dass sie “keine große Sache” waren, könnten tatsächlich das sein, was dich davon abhält, was du am meisten willst.

Vielleicht hast du gehofft, mit dem Lesen dieses Artikels deine Motivation zu erneuern oder dich noch mehr anzutreiben. Aber bitte höre auf zu laufen, setze dich für einen Moment hin und sieh dir deine Wunden an. Du kannst den Marathon laufen. Du musst nur zuerst dein gebrochenes Bein heilen.