Die Verbindung zwischen verbaler Misshandlung und Angst, über die niemand spricht

Vielleicht bist du in einer toxischen Beziehung, in der dein Partner dich schon seit langer Zeit verbal misshandelt, und du hast es einfach achselzuckend abgetan oder, schlimmer noch, bist dir dessen gar nicht als Misshandlung bewusst gewesen.

Sagt dein Partner Dinge zu dir, die du demütigend findest?

Schreien deine Eltern dich wegen unwichtiger Sachen an?

Hast du nach jeder Konversation mit deinem Partner das Gefühl, wertlos zu sein?

Wirst du von deinen Freunden beleidigt?

Kritisiert dein Partner dich zu oft?

Verbale Misshandlung, verglichen mit anderen Formen der Misshandlung wie sexuellem Missbrauch, psychologischer Misshandlung, emotionaler Misshandlung und körperlicher Misshandlung ist recht schwer zu erkennen. Der Grund dafür ist, dass sie so subtil ist.

In vielen Fällen wird verbale Misshandlung nonchalant umgangen, weil es Leuten zu weit hergeholt erscheint, auf verbale Misshandlungen zu reagieren. Wir rationalisieren verbale Misshandlung: “Hin und wieder Wortgefechte in einer Beziehung zu haben ist ganz natürlich”.

Verbale Misshandlungen durch die Eltern werden oft ermutigt: “Kinder anzuschreien und zu brüllen ist ein notwendiges Mittel der Disziplinierung”.

Schimpfnamen unter Freunden sind meistens beispielhaft für Spaß und Verspieltheit. Dabei bemerken wir aber nicht, dass wir verbale Misshandlung so indirekt weiterführen.

Verbale Misshandlung: Wenn Worte töten könnten

Verbale Misshandlung ist eine Form zwischenmenschlicher Gewalt. Sie ist eine spezielle Form der psychologischen Misshandlung. Sie kommt in verschiedenen Arten zwischenmenschlicher Beziehungen vor – beispielsweise zwischen Kindern und Eltern, zwischen romantischen Partnern, Arbeitskollegen, Ehepaaren oder zwischen anderen Mitmenschen.

Verbale Misshandlung erfolgt durch den Gebrauch abwertender oder negativer Sprache als Mittel, jemanden zu demütigen, klein zu machen, zu kritisieren und zu erniedrigen. 

Verbale Misshandlung soll immer dazu dienen, das Opfer zu manipulieren, zu bedrohen, zu belästigen, bloßzustellen, zu beleidigen und Kontrolle über es auszuüben. Bei dem Menschen, gegen den sie gerichtet ist, werden dadurch Gefühle der Angst, Verzweiflung, des Schmerzes und der Wertlosigkeit ausgelöst.

Die Tendenz zur verbalen Misshandlung entstammt meistens aus passiver Aggression, die jemand lange Zeit unterdrückt hat. 

Für den Misshandler gibt es ein Gefühl der Erleichterung, ein subtiles sadistisches Vergnügen daran, andere Menschen in einen elenden Gefühlszustand zu versetzen. Ein verbaler Misshandler lacht oft über dunkle Witze, die er dir an den Kopf wirft, selbst wenn du sichtlich verletzt bist.

Verbale Misshandlung muss also nicht immer offensichtlich, direkt und von aktiver Aggression erfüllt sein. Sie kann auch heimtückisch oder verdeckt sein und mit falscher Besorgnis ausgedrückt werden, wodurch sie schwierig zu identifizieren ist.

“Du musst etwas an dem wachsenden Fettschwabbel an deinem Bauch machen. Nur ein Vorschlag, weißt du? Fit zu bleiben würde helfen.” Diese Aussage klingt zum Beispiel oberflächlich gesehen unschuldig, beinhaltet aber eine unterschwellige Aggression.

Der erste Satz soll dich ganz klar herabsetzen. Er war nicht als Ausdruck der Besorgnis um dich gedacht.

Ein verbaler Misshandler setzt verschiedene Taktiken mit vielen Facetten ein, um dem Opfer den schwersten Schlag zu versetzen. Manchmal kombinieren sie diese Techniken mit anderen tödlichen Techniken, um das Opfer komplett zu zerstören.

Genannt werden hier 9 häufige Muster der verbalen Misshandlung, mit denen Opfer manipuliert werden:

1. Herabsetzende Bemerkungen

Herabsetzende Bemerkungen sind gezielt dazu gedacht, deine Ethnizität, dein Geschlecht, deinen Hintergrund, deine Community, deinen Lebensstil, deine Persönlichkeit etc. anzugreifen. Dabei könnte es sich um jede Aussage handeln, die dir das Gefühl geben soll, unzureichend, unbedeutend oder wertlos zu sein.

Zum Beispiel: “Du bist so ein Weichei!”, “Sind alle Frauen Heulsusen, so wie du?”

2. Kritik

Gesunde Kritik ist von Zeit zu Zeit willkommen. Sie hilft dir dabei, dich selbst zu verbessern.

Wenn diese Kritik aber ständig irrelevanter wird und langsam dein Selbstwertgefühl verringert, ist sie nicht mehr gesund.

Zum Beispiel: “Bist du sicher, dass du dieses Projekt schaffen kannst? Du bist ja so naiv, deshalb glaube ich nicht, dass du es kannst.”

3. Drohungen

Drohungen sollten leicht zu identifizieren sein. Oft werden sie aber auf eine Weise getarnt, dass du deine eigene Verantwortlichkeit in Frage stellst: “Hatte ich wirklich nicht Unrecht?” Oder du denkst: “Ich habe das verdient”

Drohungen können persönlicher, beruflicher oder anderer Art sein und sind immer eine Konsequenz daraus, die Forderungen des Täters nicht hinzunehmen. Sie zielen direkt darauf ab, Angst beim Opfer hervorzurufen.

Zum Beispiel: “Wenn du mich das nicht machen lässt, tue ich mir etwas an.”“Ich werfe dich aus dem Haus, wenn du nicht auf mich hörst.”

4. Anschuldigungen

Dies ist eine häufige Art der verbalen Misshandlung, bei der jemand einen anderen Menschen komplett für seine eigenen Taten verantwortlich macht und die Verantwortung von sich wegschiebt.

Dieser Mensch beschuldigt möglicherweise einen anderen, auch wenn dieser völlig unschuldig ist. Das Opfer fragt sich dadurch, welchen Fehler er/sie gemacht hat und ist völlig ratlos.

Zum Beispiel: “Wir haben es wegen dir nicht ins Finale geschafft.”, “Du hältst mich davon ab, meine Träume zu erreichen.”

5. Vorwürfe

Ganz ähnlich wie Anschuldigungen sind Vorwürfe oft das Resultat der Projektion der eigenen Untreue oder eigener Unsicherheiten auf das Opfer. Dadurch fragt sich das Opfer, ob es sich wirklich auf unerwünschte Weise verhält oder nicht.

Zum Beispiel: “Ich weiß, warum du diese freizügigen Klamotten trägst. Du willst damit deine Kollegen verführen”, “Ich bin sicher, dass du mich betrügst.”

6. Beleidigungen

Verbale Misshandler benutzen oft spezielle “Namen”, um das Opfer anzuschreien und zu verängstigen, es klein zu machen und seine Selbstachtung zu verringern.

Zum Beispiel: “Du dumme, hohlköpfige Schlampe, schau dich elendes Stück doch mal an.”

7. Ausufernde Diskussionen

Gibt dir dein Partner ständig unrecht? Oder nutzen deine Eltern jede Gelegenheit, mit dir zu streiten?

Wenn dich nach diesen Diskussionen ausgelaugt und müde fühlst, weil es in ihnen keinen Raum mehr für deine Meinungen gibt, weil der Täter deine Ansichten meistens verleugnet, ignoriert, unterbricht und isoliert. Oft passiert dies dadurch, dass er oder sie über dich hinweg schreit, nur um deine Stimme zu unterdrücken und seinen/ihren Standpunkt hervorzuheben.

Diese Diskussionen drehen sich immer im Kreis und führen zu nichts Fruchtbarem, außer dass du dich mental ausgelaugt und angegriffen fühlst.

8. Herablassung

Manche Witze sind nur zum Spaß, während andere dazu gedacht sind, jemanden herunterzumachen.

Alles ändert sich mit dem Tonfall. Wenn der Ton sarkastisch ist, selbst wenn die Worte harmlos erscheinen, gibst du verbale Misshandlung als eine normale Aussage aus.

Zum Beispiel: “Oh, der arme Stuhl! Guck mal, wie er sich über dein Gewicht beschwert.”

9. Stimmungskiller

Dies sind typische Aussagen, um deine gute Laune abzutöten. Sie kommen plötzlich daher und blasen deine komplette gute Laune für etwas weg.

Zum Beispiel: Stell dir vor, du hast einen Abend mit Freunden geplant und mühevoll das beste Restaurant zum Essen ausgesucht, aber einer deiner Freunde sagt schließlich: “Gehen wir schon wieder in dieses miese Restaurant, das schales Essen serviert?”

ZACK! Jetzt bist du nicht in der Stimmung, mit ihnen auszugehen.

10. Interessen angreifen

Dies sind respektlose Kommentare über Sachen, die zu deinen Leidenschaften oder tiefsten Interessen gehören.

Zum Beispiel: “Du schreibst Gedichte? Ist das nicht nur was für Nerds?”

Die Methoden sind vielleicht unterschiedlich, aber verbale Misshandlung macht einen Menschen anfällig für immens viel Stress und Angst.

Die folgenden sind die kurz- und langfristigen Auswirkungen von verbaler Misshandlung auf einen Menschen:

Kurzfristige Auswirkungen:

  • Mangel an Motivation
  • Gefühle der Wertlosigkeit
  • Grübelei
  • Unentschlossenheit
  • Verringertes Selbstwertgefühl
  • Weniger soziale Interaktionen
  • Im Extremfall selbstverletzendes Verhalten.

Langfristige Auswirkungen:

  • Angststörungen
  • PTBS
  • Depressionen
  • Essstörungen
  • Schlafstörungen
  • Magen-Darm-Probleme
  • Migräne
  • Körperliche Schmerzen
  • Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Dissoziation
  • Drogenmissbrauch
  • Wut und Feindseligkeit

Welche Verbindung besteht zwischen Angst und verbaler Misshandlung?

Verbale Misshandlung führt beim Opfer zu Reaktionen, die fast ähnlich wie Stress und Angst sind.

Zur Erklärung, wie verbale Misshandlung zu Angststörungen führen kann, ist es wichtig zu wissen, wie verbale Misshandlung normalerweise funktioniert.

Verbale Misshandlung verläuft, wie andere Formen der Misshandlung, in drei eindeutigen Phasen.

  • Phase I – Spannungsaufbauphase
  • Phase II – Die Gewaltphase
  • Phase III – Die Flitterwochenphase

Die erste Phase (Spannungsaufbauphase) ist die, in der der Täter sehr fordernd, emotional instabil, launisch, kontrollierend, kritisch wird und anfängt, seine manipulativen Techniken wie Drohungen, Schimpfen und Schreien einzusetzen, um beim Opfer Angst und Schrecken auszulösen.

Das Opfer ist oft ratlos und fühlt sich überrumpelt, weil der Angriff üblicherweise unvorhersehbar ist.

Das Opfer weiß nicht, wie es mit der Situation umgehen soll und nutzt alle seine oder ihre Ressourcen, um das Problem zu minimieren und die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Das Opfer versucht möglicherweise, den Täter zu beschwichtigen, aber die Spannung intensiviert sich und gipfelt in der nächsten Phase. Die Bemühungen des Opfers, die Situation unter Kontrolle zu bringen, nützen nichts, da er oder sie selbst immer mehr unter Kontrolle gerät.

In der zweiten Phase (der Gewaltphase) eskaliert das Verhalten des Täters und erreicht einen Höhepunkt, bei dem sich das Opfer fühlt, als ob es überhaupt keine Kontrolle mehr über die Situation hat.

Die Kontrolle wird schlimmer und führt manchmal zu komplexeren Formen der psychologischen Misshandlung wie ein schlechtes Gewissen machen, Gaslighting, Abschieben von Schuld und unnütze Anschuldigungen.

Wenn das Opfer sich nach und nach der Manipulation ergibt, wird der Täter langsam körperlich gewalttätig, wobei er neben verbalen Drohungen oft nach Mitteln greift, wie das Opfer zu schlagen, prügeln, beißen oder festzuhalten.

Das Opfer hierbei versteht die gesamte Situation nicht und warum sie eskaliert ist. Da die Phase der Gewalt durch den emotionalen Zustands des Täters oder andere externe Trigger ausgelöst wird Auslöser auftritt, kann das Opfer nichts anderes dabei tun, als den Täter anzubetteln, “es schnell hinter sich zu bringen”.

In der dritten Phase (der Flitterwochen-Phase) zeigt sich eine plötzliche Veränderung im Verhalten des Misshandlers, da er oder sie rücksichtsvoller, entschuldigend und reumütig im Bezug auf die komplette Situation wird.

Manche Misshandler fühlen sich für ihre Taten extrem schlecht, bitten um Vergebung und überschütten das Opfer mit Liebe, Zuneigung und Mitgefühl. Am Ende machen sie sich sogar Vorwürfe oder verletzen oder bestrafen sich selbst, um die Aufmerksamkeit des Opfers zurückzugewinnen, und versprechen, es zukünftig “nie wieder zu tun”. 

Andere Misshandler gehen einfach von der ganzen Sache weg und ignorieren sie, als wäre nichts passiert. Das Opfer ist leicht bereit, sich überzeugen zu lassen und vergibt dem Misshandler, um “die Situation unter Kontrolle zu bringen” und “die Harmonie zwischen uns beiden” wiederherzustellen.

An diesem Punkt ergibt sich das Opfer selbst einem weiteren, unvermeidlichen Kreislauf der Misshandlung.

Halte jetzt kurz inne und stelle dir das ganze Szenario vor.

Wenn dies dir regelmäßig passiert, ohne dass du irgendeine echte Schuld daran trägst, wie reagierst du dann darauf?

Misshandlung wiederholt sich normalerweise. Ist es einmal passiert, wird es immer wieder passieren.

Wenn jemand mit harten, erniedrigenden Worten attackiert wird, aktiviert sich automatisch der “Flucht oder Kampf” Modus. Unser Gehirn nimmt die Situation einfach als extrem provozierend und ungesund für das Selbst wahr.

Der Körper findet hier keinen Weg, um der Situation zu entfliehen (was oft bei jeder Art von Misshandlung der Fall ist, da dem Opfer oft mit lebensverändernden Konsequenzen gedroht wird, sollte es den Misshandler verlassen) und das Sympathikus-System des Körpers wird aktiviert und zeigt Symptome wie Schwitzen, kalt und heiß werden, trockener Mund, beschleunigter Herzschlag – welche im Angesicht eines alarmierenden Reizes absolut natürlich sind.

Mit der Zeit gewöhnt sich dein Körper an diese Form von angstauslösenden Reizen. Nach wiederholten Misshandlungen hast du durch Erfahrung und Wachsamkeit gelernt, wie die Anzeichen für einen bevorstehenden Misshandlungszyklus aussehen.

Jedes Mal also, wenn der Misshandler mit erhobener Stimme mit dir spricht oder anfängt, ein wenig aggressiv oder defensiv zu werden, fürchtest du dich vor einem negatives Ergebnis (vielleicht steht eine weitere Episode der Misshandlung bevor).

Der Körper beginnt deshalb, ähnliche Symptome wie die einer Angstattacke zu zeigen, wie Herzklopfen, Kurzatmigkeit, Schwitzen und Schwindel, auch wenn es keinen relevanten Trigger gibt. Nur die gefühlte Möglichkeit der Misshandlung reicht nun, um diese Angstsymptome hervorzurufen.

Du siehst also, dass Misshandlung dich nicht nur durcheinanderbringt, sondern dich mit der Zeit ängstlich macht.

Wenn diese verbale Misshandlung sich über einen längeren Zeitraum hinzieht (was oft der Fall ist), wird das Opfer dadurch schreckhaft für den Rest des Lebens. Es könnte eine soziale Angststörung bekommen, weil es Angst hat, wiederholten beleidigt und gemobbt zu werden.

Auch in Beziehungen könnte es extrem verletzlich werden, da die Angst, ähnlich misshandelnden Menschen ausgesetzt zu sein, nicht beseitigt wird.

Forschungen zeigen, dass wahrgenommene verbale Misshandlung durch die Eltern in der Kindheit und verbale Misshandlung durch Gleichaltrige in der Jugend mit einem Risiko für depressive Stimmung, Angst, Wut-Feindseligkeit, Suizidalität, Dissoziation oder Drogenkonsum bei jungen Erwachsenen in Zusammenhang gebracht wurden.

Menschen, die verbal misshandelt wurden, hatten 1,6-mal so viele Symptome von Depressionen und Angststörungen wie solche, die nicht verbal misshandelt worden waren, und ein doppelt so hohes Risiko, im Laufe ihres Lebens an einer Stimmungs- oder Angststörung zu leiden.

Verbale Misshandlung hat im Vergleich zu anderen Formen der Misshandlung keine geringeren Auswirkungen.

Es erscheint möglicherweise unbedeutend, aber längere Zeiträume der verbalen Misshandlung wurden sogar mit vielen mentalen Problemen bei Jugendlichen in Verbindung gebracht, wie kriminellen Tendenzen, Drogenmissbrauch und Selbstmordgedanken, sowie Depressionen und Angststörungen.