Toxische Positivität macht uns langsam zu schrecklichen Menschen

Ungleichheit stützt sich auf emotionale Entwertung.

Entwertung passiert heutzutage überall, vor allem in Kulten von Möchtegern-Entrepreneuren, die am Altar der “persönlichen Verantwortung” huldigen. Du kannst jeden fragen, der ein bisschen Erfahrung erster Hand hat. Und es hört damit nicht auf.

Wir haben Politiker, die mit Sozialhilfe aufgewachsen sind und diese für alle anderen beschneiden wollen. Wir haben Politiker, die über sterbende Kinder kichern. Wir haben “News Anchors”, die für Geld lügen.

Nein, sie sprechen nicht für uns alle. Sie sprechen aber für Millionen, und das sind zu viele, wenn du mich fragst.

Ich habe am eigenen Leib erfahren, was Entwertung anrichtet.

Meine Mutter nahm mich früher immer zur Seite und sagte: “Du wirst nicht misshandelt. Das weißt du doch, oder?” Sie erzählte Geschichten über Kinder, die “echte Misshandlung” erlitten. Nach und nach lernte ich zu akzeptieren, was vor sich ging.

Ich glaubte eine Reihe von Lügen:

Es war normal, von einem Elternteil angeschrien zu werden. Es war normal, mit Dingen beworfen zu werden. Es war normal, tagelang ignoriert zu werden. Ich habe meine Mutter nie der Misshandlung bezichtigt.

Ihre Schuldgefühle (oder vielleicht Angst) ließen sie vorbeugen. Sie erzählte Geschichten über in Schränke eingesperrte Kinder. Ausgehungert. Geschlagen. 

Sie sagte, wenn ich heulend zu meinen Lehrern rennen würde, müssten diese uns beim Jugendamt melden. Vielleicht würden sie mich in eine Pflegefamilie stecken, wo ich “echt misshandelt” werden würde.

Das war eine ganz schöne Ansprache. Ich blieb still.

Die Anatomie der Entwertung

Wir leben in einer von toxischer Positivität durchdrungenen Kultur. Jeder muss 24/7 eine positive, gesellschaftlich akzeptable Einstellung liefern.

Negative Emotionen behandeln wir, als ob sie ansteckend wären. Wir lassen niemanden Traurigkeit oder Verletzlichkeit ausdrücken, weil wir Angst haben, uns damit anzustecken. Wir zwingen alle, den Silberstreif am Horizont zu finden.

Wir erwarten, dass sie jeder Geschichte ein Happy End aufdrücken, selbst wenn sie dafür lügen müssen. Wenn sie es nicht können, entwerten wir sie. Wir schreiben ihnen vor, was sie fühlen und wie sie sich ausdrücken sollen.

Du darfst Leute nicht vor irgendetwas warnen, sondern nur erst dann Probleme angehen, wenn sie unmöglich zu ignorieren sind.

Ich bin das ein wenig leid.

Wenn du einmal Entwertung erlebt hast, ist sie nicht schwer zu erkennen. Du kennst das Gefühl. Du siehst die Muster, selbst wenn du nie genau das Wort “Entwertung” als Taktik betrachtet hast. Aber das ist es.

Misshandler verlassen sich auf die Entwertung, um sicherzustellen, dass alle in ihrem Leben ihren Scheiß weiterhin mitmachen.

In letzter Zeit hat sich das weit verbreitet, da die obersten Führer des Spätkapitalismus nach Wegen suchen, uns in unseren beschissenen Jobs zu halten und uns sagen, dass wir lächeln sollen, während sie absurde Mengen an Farmland und Immobilien aufkaufen.

Ihre Medienmaschine ist schwer damit beschäftig, uns zu versichern, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Wir sollten es feiern, nichts zu besitzen. Wir sollten aufhören, wegen neuer Varianten tödlicher Krankheiten in Panik zu geraten und einfach zurück an die Arbeit gehen.

So funktioniert Entwertung:

Sagen wir einmal, dass du deine Gefühle gegenüber jemandem ausdrückst, der dich verletzt hat. In einer gesunden Beziehung hört derjenige dir zu. Er erkennt deine Gefühle an.

Klar, er kann anderer Meinung sein. Er kann sich verteidigen oder dir Kontext geben, der erklärt, was er getan hat und warum. Er kann sogar selbst aufgebracht sein.

Das nennt man menschlich sein.

Entwertung macht etwas anderes.

Sie reagiert nicht nur. Sie sagt, dass du unrecht hast, dich so zu fühlen. Sie sagt dir, wie du dich fühlen solltest. Sie sagt dir, wie du deine Gedanken und Gefühle ausdrücken solltest. Sie sagt dir außerdem, wann und wo.

Sie trivialisiert dein Erleben, indem sie den Vergleich mit Menschen zieht, denen es “schlechter geht”. Manchmal gibt es eine flüchtige Einleitung wie: “Ich weiß, dass du wütend bist, aber…”

Der Sinn der Entwertung besteht nicht darin, einen Dialog zu führen oder dich die Dinge aus ihrer Sicht betrachten zu lassen. Er besteht darin, dir Schuldgefühle zu machen. Er besteht darin, dass das Gespräch sich um deine Fehler dreht.

Er besteht darin, dich zu beschämen.

Er besteht darin, dich zum Schweigen zu bringen.

Ein Beispiel für Entwertung

Bevor sie anderen psychischen Erkrankungen zum Opfer fiel, legte meine Mutter alle Verhaltensweisen eines Narzissten an den Tag. Wenn du mit einem Narzissten aufwächst, fühlst du dich oft zu ihnen hingezogen. Es ist ein destruktives Muster, das ich durchbrechen musste.

Vor einiger Zeit schlief meine beste Freundin mit dem Verlobten einer anderen guten Freundin. Sie fühlte sich schuldig, also betrank sie sich. Sie rief eines Tages spätabends meinen Verlobten an und beichtete ihm alles. Sie ließ ihn schwören, es für sich zu behalten.

Dann lud sie ihn auf ein paar Drinks ein.

Nur sie beide…

Als ich es herausfand, war ich erbost.

Im Nachhinein sehe ich, was sie vorhatte. Sie wollte nicht beichten. Sie war auf der Suche nach Bestätigung und nach einer neuen Trophäe. Sie lagerte die Schuld aus. Sie war auch dabei, die “Ich kann doch nichts dafür, dass ich schön bin”-Verteidigung vorzubereiten.

Wir hatten einen ausgedehnten Streit.

Meine Freundin bezeichnete mich als unreif und egoistisch. Sie sagte, dass ich paranoid sei und versuchen würde, meinen Verlobten zu kontrollieren und zu entscheiden, mit wem er befreundet ist und worüber sie reden dürfen.

Sie sagte mir, dass ich “erwachsen werden” solle.

Zum guten Schluss stellte meine Freundin in Frage, ob ich “Beziehungsmaterial” sei, weil ich meinen Verlobten gezwungen hatte, mir zu erzählen, was vor sich ging.

(Weil er sich komisch benahm und “Geheimnisse, die ich dir nicht verraten kann” andeutete, bevor er in lange, ominöse Schweigephasen verfiel.)

Wie ein Idiot entschuldigte ich mich.

Sie vergab mir.

Und so funktioniert Entwertung. Sie dreht den moralischen Spieß um und lässt dich alles an dir in Frage stellen. Seitdem bin ich ein wenig schlauer geworden.

Erlebe Entwertung oft genug und du lernst recht schnell, wie du sie erkennen kannst. Das musst du, weil sie gefährlich ist. Sie ist das Hauptwerkzeug, das Misshandler hervorholen, wenn sie kurz davor sind, die Kontrolle zu verlieren.

Entwertung lobt das stille Leiden

Es gibt noch eine weitere Hauptzutat emotionaler Entwertung, die ich in letzter Zeit oft gesehen habe, nämlich das Lob des stillen Leidens. Man findet es im Tropus der “starken Frau”, die Misshandlung ohne zu klagen erträgt.

Es ist nicht nur eine Sache des Geschlechts.

Die Entwertung sieht man jetzt auch in politischen Debatten, jedes Mal, wenn dir jemand sagt, wie “gut” du es verglichen zu anderen Gruppen hast.

Es ist eigentlich wirklich eine Art Pornografie.

In ihrer reinen Form sind die Geschichten über die Überwindung von Armut und Widrigkeiten dazu gedacht, uns zu inspirieren und zu motivieren. Misshandler machen sich auf die Suche nach den extremsten Beispielen für Triumphe.

Sie entführen sie.

Sie verdrehen sie, um sie zu einem sadistischeren Zweck zu verwenden, der darin besteht, jeden zu beschämen, der es wagt, über systemische Ungerechtigkeit zu sprechen.

Sie zeigen dir einen Mann, der einen Marathon läuft und nur ein Bein hat, und fragen dann: “Und was ist deine Ausrede?” Sie zeigen dir ein Waisenhaus in Kalkutta und sagen: “Die Kinder beschweren sich nicht.”

Diese Art der Entwertung passiert in der westlichen Kultur in massivem Ausmaß. Sie wird eingesetzt, um alles von Hungerlöhnen bis zum Wohlstandsevangelium zu rechtfertigen.

Es soll ablenken und jedem den psychologischen Boden unter den Füßen wegziehen, der versucht, den Mund zu Dingen wie Ungleichheit aufzumachen.

Entwertung beruht auf ihrem eigenen logischen Trugschluss, dass Menschen sich nicht gegen Unrecht oder Ungerechtigkeit aussprechen, denen sie ausgesetzt sind, weil sie so voller Mumm und Widerstandskraft sind.

In Wahrheit sprechen sich viele Menschen nicht gegen Ungerechtigkeit und Misshandlung aus, weil sie genauso sind wie ich früher. Sie haben Angst. Sie sind konditioniert worden, es zu akzeptieren. Wenn sie doch den Mund aufmachen, hört ihnen niemand zu. Sie empfinden Scham und Verlegenheit.

Das ist keine Inspiration und nicht einmal “liebevolle Strenge”.

Es ist einfach nur grausam.

Entwertung ist in missbräuchlichen Gesellschaften üblich

Wir leben in einer missbräuchlichen Gesellschaft.

Diese Gesellschaft lässt Menschen mit Macht und Einfluss damit durchkommen, sich als reif und ichbewusst zu geben, obwohl sie es nicht sind. Sie überlässt ihnen Raum, immer und immer wieder.

Sie lässt korrupte Politiker und Milliardäre die moralische Agenda der Welt festlegen. Sie lässt zu, dass sie uns beschämen, damit wir schweigen, weil niemand als “negativ” bezeichnet werden will. Niemand will zu hören bekommen, dass er “nur meckert”.

Missbräuchliche Gesellschaften wollen, dass die Schwachen entweder von alleine stärker werden oder in Stille leiden. Sie betrachten das als tugendhaft. Missbräuchliche Gesellschaften sagen dir, dass du lächeln sollst, egal, wie du dich eigentlich fühlst.

Menschen lassen sich leicht zum Schweigen bringen, indem man ihnen sagt, dass es jemandem anderen schlechter geht. Es ist sogar noch einfacher, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, weil sie Kritik ausgedrückt oder auf Heuchelei hingewiesen haben.

Du kannst so lange mit ihren Gefühlen “aber was ist mit…” spielen, bis sie wünschten, nie etwas gesagt zu haben.

Entwertung ist ein sehr effektives Werkzeug für Misshandler. Wir leben in einer Gesellschaft, die missbräuchliches Verhalten oft belohnt und dann am Ende rechtfertigt, indem gesagt wird, es sei irgendwie “natürlich”.

Sie tritt liebend gerne Menschen, wenn sie am Boden liegen, und bestraft die Schwachen.

Auf Missbrauch reagiert man nicht mit Empathie. Man setzt sich nicht mit Misshandlern zu einem Kaffee zusammen und hört sich “ihre Sichtweise” an.

Man wird sie los.