Ich erinnere mich an dieses eine Bild aus meiner Kindheit, das mich nie ganz verlassen hat: Ich sitze auf dem Teppich im Wohnzimmer, male, irgendetwas Buntes, während meine Mutter hinter mir auf dem Sofa liegt.
Sie schläft nicht. Aber sie ruht. Ihre Augen sind offen, auf einen Punkt gerichtet, den ich nicht sehen kann. Ich spreche sie an, sie antwortet, aber irgendwie kommt nichts zurück. Ihre Stimme ist da – aber nicht sie.
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Damals dachte ich: So ist das eben. So ist sie.
Ich wusste nicht, dass sie depressiv war. Das Wort existierte nicht in meinem Kopf.
Was existierte, war das Gefühl, dass ich irgendwie auf sie aufpassen muss. Dass ich lieb sein muss. Nicht zu laut. Nicht zu fordernd. Dass ich sie nicht noch trauriger machen darf, als sie schon ist.
Ich erinnere mich an Geburtstage, an Weihnachten, an normale Nachmittage – und an das Gefühl, dass ihre Nähe nie ganz warm war. Nie ganz da. Immer wie durch einen Schleier.
Ich weiß noch, wie ich mich bemüht habe, fröhlich zu sein. Wie ich versucht habe, zu „funktionieren“. Ich war ein ruhiges Kind. Ich machte keine Probleme. Ich spürte, dass in unserem Haus kein Platz war für zusätzliche Emotionen – außer für ihre. Und so lernte ich früh: Rücksicht ist wichtiger als alles andere.
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Was ich damals nicht verstand, aber in jeder Zelle spürte: Meine Mutter war traurig. Und ich war das Kind, das versuchte, sie wieder lebendig zu machen.
Sie hatte keinen Namen für das, was in ihr vorging. Ich auch nicht. Ich wusste nur, dass ich sie vermisste, obwohl sie da war. Dass sie irgendwie leer war, auch wenn sie lächelte. Dass sie nicht wirklich fragte, wie es mir ging – und wenn sie es tat, war sie oft schon so müde, dass ich lieber sagte: „Alles gut.“
Ich war ein Kind – aber innerlich längst jemand, der für andere sorgen wollte. Weil niemand da war, der für mich sorgte.
Heute, viele Jahre später, verstehe ich mehr.
Ich verstehe, dass Depressionen nicht immer dramatisch oder offensichtlich sind. Dass sie manchmal ganz leise kommen, wie ein Schleier über allem. Und dass sie nicht nur den Menschen betreffen, der darunter leidet – sondern auch die Menschen, die mit ihm leben. Besonders die Kinder.
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Ich habe mich lange gefragt, ob ich das überhaupt sagen darf: Dass ich als Tochter einer depressiven Mutter gelitten habe. Ich wollte sie nicht verraten. Nicht verletzen. Nicht undankbar erscheinen. Ich habe mich jahrelang selbst zurückgenommen, um loyal zu bleiben.
Aber irgendwann habe ich verstanden: Es ist kein Verrat, die eigene Geschichte zu erzählen. Es ist eine Form der Befreiung.
Und vielleicht liest das gerade jemand, der sich in diesem leisen, traurigen Zuhause wiedererkennt. Jemand, der sich fragt, warum er so oft stark sein will. Warum Nähe sich so anstrengend anfühlt. Warum er sich in Beziehungen ständig selbst vergisst.
Dann möchte ich sagen: Du bist nicht allein. Und es war nicht deine Schuld.
Woran du erkennst, dass deine Mutter depressiv war (auch wenn niemand es dir je gesagt hat)
Depressionen in Müttern bleiben oft lange unerkannt – gerade wenn sie irgendwie „funktioniert“ haben. Aber es gibt Anzeichen, die sich tief im emotionalen Erleben der Kinder einprägen. Vielleicht erkennst du dich hier wieder:
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1. Du hast dich als Kind oft allein gefühlt, obwohl jemand im Raum war.
Es war keine bewusste Vernachlässigung – eher ein ständiges Fehlen von echter Nähe, Interesse oder Resonanz. Du hattest das Gefühl, dass du sie „nicht erreichen“ konntest.
2. Du hast gelernt, Rücksicht zu nehmen, bevor du sprechen konntest.
Vielleicht warst du sehr angepasst, sehr umsichtig, hast dich früh um sie gekümmert. Du wusstest intuitiv, wann du lieber nichts sagen oder schnell die Stimmung wechseln solltest.
3. Du hast Schuldgefühle, wenn du fröhlich oder frei bist.
Es kann sein, dass du dich noch heute unwohl fühlst, wenn du sorglos bist – als dürftest du das nicht. Als wäre es gefährlich, zu sehr du selbst zu sein.
4. Du erinnerst dich an ein ständiges Gefühl, „nicht genug“ oder „zu viel“ zu sein.
Du hast versucht, sie glücklich zu machen – aber es hat nie ganz geklappt. Und tief in dir entstand das Gefühl: Mit mir stimmt etwas nicht.
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5. Deine eigenen Gefühle hatten keinen Raum.
Du hast vielleicht gelernt, dass deine Emotionen stören. Dass du nicht traurig, nicht wütend, nicht laut sein darfst. Und auch heute fällt es dir schwer, dich selbst zu spüren.
Was diese Erfahrung mit deinem Leben machen kann
Aufzuwachsen mit einer depressiven Mutter kann tiefe Spuren hinterlassen – selbst dann, wenn man meint, „eigentlich war doch alles okay“. Viele Betroffene berichten über ein Leben im inneren Funktionsmodus. Über ein hohes Verantwortungsgefühl, über Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen, über Partnerschaften, in denen sie sich verlieren.
Oft ziehen sich Muster durch wie:
- Überanpassung: Du bist in Gruppen die „Harmonische“, die „Starke“, die, die alles im Blick hat.
- Selbstvergessenheit: Du spürst schneller, was andere brauchen, als was du selbst brauchst.
- Angst vor Abhängigkeit: Du brauchst Nähe, aber sie macht dich auch nervös.
- Schuldgefühle beim Abgrenzen: Du kannst schwer „Nein“ sagen, weil du dich sofort schlecht fühlst.
Das alles kommt nicht aus dem Nichts. Es sind Überlebensstrategien. Schutzmechanismen eines Kindes, das in einer emotional instabilen Umgebung gelernt hat: Ich bin nur sicher, wenn ich nichts will, nichts brauche, niemandem zur Last falle.
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Was du tun kannst, um dich zu heilen
Es ist nie zu spät, aus diesen Mustern auszusteigen. Und es beginnt nicht mit einem radikalen Bruch, sondern mit leisen Schritten zurück zu dir:
1. Erkenne an, was war.
Du darfst sagen: Meine Mutter war depressiv. Du darfst sagen: Ich habe gelitten. Es geht nicht darum, jemandem die Schuld zu geben – sondern dir selbst Glauben zu schenken.
2. Erlaube dir Gefühle, die früher keinen Platz hatten.
Vielleicht ist da Wut. Vielleicht Trauer. Vielleicht beides. Alles darf da sein. Es bedeutet nicht, dass du undankbar bist – nur, dass du endlich auf deiner Seite stehst.
3. Finde Sprache für dein inneres Kind.
Stell dir vor, du sitzt neben deinem kindlichen Ich. Was hätte es gebraucht? Was hat es geglaubt? Und was würdest du ihm heute sagen?
4. Lerne, dich selbst zu versorgen.
Du musst heute nicht mehr die starke, perfekte, funktionierende Tochter sein. Du darfst müde sein. Bedürftig. Lebendig. Ganz.
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5. Such dir Menschen, die dich wirklich sehen.
Ob in Therapie, im Austausch mit anderen Betroffenen oder in ehrlichen Freundschaften – heilsame Beziehungen sind kein Luxus. Sie sind dein neues Zuhause.
Und wenn du heute zurückblickst
Vielleicht siehst du noch immer das Sofa im Wohnzimmer. Vielleicht sitzt sie noch immer dort – oder ist längst gegangen. Vielleicht wirst du nie mit ihr darüber sprechen können. Vielleicht hast du es versucht. Vielleicht hat sie es abgestritten. Oder einfach nicht verstanden.
Es ist okay.
Du brauchst ihre Anerkennung nicht mehr, um zu wissen, was war.
Deine Geschichte ist echt. Deine Gefühle sind berechtigt. Und du darfst heute etwas beenden, das du als Kind nie begonnen hast: Die stille Verantwortung für das emotionale Wohl einer Frau, die eigentlich für dich hätte da sein sollen.
Heute darfst du dich selbst in den Arm nehmen.
Heute darfst du sagen: Ich war das Kind einer traurigen Mutter.
Und ich bin heute erwachsen genug, um mich selbst zu lieben.
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